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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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manchmal wie menschliche Stimmen. Da
war die Krähenfrau, die lachte, da war der einschmeichelnde Akzent Anselmos,
dessen Worte plötzlich seltsam klangen, sich veränderten, bis sie zu den harten
Lauten des Wolfsjägers wurden.
    Und darüber lag ein
Pochen, sanft und monoton, ohne Unterlass.
    Inmitten dieses
Durcheinanders aus Geräuschen, die nah und fern zugleich waren, leuchteten
gelegentlich Augen auf, fremde Augen, giftige Augen, klein wie Nadelköpfe. Die
diffuse Dunkelheit wurde durchlässiger, flackerte. Nach und nach schien sie
sich vollständig aufzulösen, nur um dann wieder alles zu beherrschen.
    Und weiterhin dieses
Pochen, das niemals leiser oder lauter wurde.
    Erneut die Dunkelheit,
erneut die funkelnden Augen, dann erwuchs ein Himmel wie aus dem Nichts, ein
sonderbarer Himmel, der nicht mehr grau und wolkig war, allerdings auch nicht
blau. In einem schmutzigen Weiß stülpte er sich tief über die Welt, sodass man
ihn fast mit den Fingerspitzen berühren konnte.
    Das heisere Krächzen der
Vögel verstummte ganz allmählich, die menschlichen Stimmen lösten sich auf. Es
gab nichts mehr, nichts außer einem Schaukeln, einem gemächlichen,
fortwährenden Schaukeln.
    Wann Bernina wieder
klarer wurde, wann sie wieder Gerüche wahrnahm, das hätte sie nicht sagen
können. Aber auf einmal roch sie Leder und Holz, auf einmal sah sie, dass das
schmutzige Weiß nicht der Himmel, sondern die untere Seite einer Wagenplane
war. Und das Geräusch kam vom Regen, der sie von Teichdorf verfolgt zu haben
schien wie die Reiter mit den roten Umhängen.
    Sie erschrak, als
blitzschnell diese beiden giftigen Augen vor ihrem Gesicht erschienen, und ein
Stöhnen kratzte in ihrer Kehle.
    Boshaft wurde sie
angestarrt. Jedenfalls kam es ihr so vor.
    Dann erneut der Schlaf.
Doch nicht lange. Bernina hörte ein Stöhnen – ihr eigenes. Ihre Lider
flatterten. Ihr Kopf brummte. Ihre Arme schmerzten, ebenso ihre Beine. Kratzer
und tiefe Schnitte, wie von Klingen – überall auf ihren Unterarmen. Aber keine
der Wunden wirkte entzündet. Offensichtlich waren sie gereinigt worden.
    Sie lag unter einer
Decke, die recht sauber zu sein schien. Mitten in einem Wagen, zwischen vielen
Kisten und Körben und anderen Behältern.
    Die Augen musterten sie
mit prüfendem Blick. Immer noch. Oder schon wieder. Sie waren tief vergraben in
einem schmalen, faltigen Gesicht. Am spitzen Kinn wehte ein faseriger weißer
Bart.
    »Hi, hi, hi.« Weniger
ein Lachen oder Gekicher, eher das Meckern einer Ziege.
    »Wo bin ich?«, entfuhr
es Bernina.
    Eine schmale Hand mit
fast durchscheinender Haut hielt ihr eine Holzschale hin, und sie trank sofort,
beinahe gedankenlos. Brühe. Kalt, aber schmackhaft.
    Der Mann war klein und
schlank, geradezu zierlich. Weiß das Haar, das ihm in dünnen Strähnen über die
Ohren fiel und von einem kleinen, nass gewordenen Barett bedeckt wurde.
    »Hi, hi, hi.«
    »Wer sind Sie?«
    »Die Frage ist eher: Wer
sind Sie?« Er schüttelte den Kopf. »Konnte Sie aber schlecht liegen lassen,
oder? Einfach so, oder?«
    »Was ist passiert?«
    »Ich
fand erst Ihr Pferd mit gebrochenen Knochen. Und musste ihm leider den
Gnadenschuss geben. Dann entdeckte ich Sie. Ich dachte schon, ich müsste mit
Ihnen das Gleiche machen.« Erneut sein Ziegengemecker. »Aber die Bäume haben
Ihren Sturz ganz gut abgefangen. Sie sind eben leichter als das Pferdchen. Kein
einziger Knochen gebrochen. Glück gehabt! Nur Abschürfungen an den Armen, an
den Beinen. Und einen Brummschädel. Und bestimmt tut Ihnen alles weh. Dürften
aber bloß Prellungen sein.«
    Die Reiter, durchfuhr es
Bernina, die erst jetzt wieder die flirrenden Bilder ihres Sturzes vor Augen
hatte. »War noch jemand bei mir?«
    »Nein, nein«, lachte er
auf. »Nur ein Frauenzimmer kann so blind sein und diesen Abhang übersehen.
Schade um das Pferdchen.«
    »Dann sind wir jetzt auf
dem Weg nach Ippenheim? Wie lange war ich bewusstlos?«
    Er lachte noch lauter
und drehte sich ohne eine Antwort um. Gebückt lief er nach vorn und schlüpfte
durch die Plane nach draußen auf den Bock. Ein Peitschenschlag, und das
Geschaukel begann von Neuem. Bernina schlief ein und erwachte bei der nächsten
Rast. Abermals erhielt sie Brühe, jetzt mit darin aufgeweichtem Brot.
    »Sagen
Sie mir doch bitte, wie lange ich geschlafen habe?«, fragte sie erneut. »Wann
werden wir Ippenheim erreichen? Wann wird es Abend sein?« Sie dachte an die
Reiter, dachte an Norbys furchtbaren Tod – auch daran, dass in der

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