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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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gerichtet: »Haben Sie vorher schon einmal eine
Goldschmiedewerkstatt gesehen, Kindchen?«
    »Nein«, antwortete
Bernina.
    Zum ersten Mal schlich
sich ein Leuchten in seine Augen: »Nun ja, das ist sie, meine kleine Welt.«
    Es war eine recht große
Stube mit hölzerner Decke. An den Wänden das Werkzeug, ordentlich aufgehängt:
Zangen, Feilen, Blechscheren, Waagen, Mörser und mehr. Auf zwei Brettern
übereinander fertige Stücke, darunter Pokale, eine makellos golden schimmernde
Schale, eine Schüssel. Und wunderschönes Silberhandwerk, das von Schwarzmaul
mit A und S signiert worden war: Bestecke, Zierdöschen und Emailleplatten, ein
Salzfässchen, Schmuck, auch ein trabendes Pferdchen und einen tanzenden Bären.
Bernina konnte sich an der Vollkommenheit der Dinge gar nicht sattsehen.
    Pierre warf ihr
belustigte Blicke zu, während er den Blasebalg traktierte und dann die Esse
anfeuerte.
    »Was soll ich tun?«,
fragte Bernina.
    »Erst zuschauen«,
erwiderte Schwarzmaul. »Dann hier und da eine Hand reichen. Und vor allem
eines: lernen.«
    Er nahm am Arbeitstisch
Platz und begann, mit einem kleinen Hammer an einem Becher zu hämmern. Mit
Feingefühl und Geschick – und mit einer Liebe zu seiner Aufgabe, die nicht zu
übersehen war. Pierre hatte sich unterdessen an einer Drahtziehbank zu schaffen
gemacht.
    Die Umtriebigkeit, die
Gerüche, der Glanz der Edelmetalle. Es war ein faszinierendes Bild, ein Bild,
das Bernina ablenkte von anderen Dingen. Und von da an verfolgte sie die
Vorgänge in der Werkstatt nicht mehr nur durch den Türspalt. Sie tat, was
Schwarzmaul von ihr verlangt hatte: zuschauen, helfen, lernen. Neugierig
betrachtete sie, wie der Goldschmied seiner Arbeit nachging. Schon an diesem
Tag übte sie sich darin, an der Esse Metall und Emaille zu schmelzen.
Schwarzmaul allerdings zeigte sich nicht nur als besessener Handwerker und
Künstler, sondern auch als Grobian, der nicht zögerte, den armen Pierre mit
Ohrfeigen einzudecken. Ja, seine Welt, und zwar voll und ganz.
    Erst wenn die von Wolken
fast verborgene Abendsonne unterging, wurden Stichel und Hammer beiseite
gelegt. Pierre und Bernina fingen an, die Werkstatt aufzuräumen und auszufegen,
und Schwarzmaul hielt noch an einem der beiden zur Straße gelegenen Fenster ein
Schwätzchen mit Kunden. Und von denen gab es offenbar genug. Der Name Meister
Schwarzmauls schien wahrlich ein Begriff zu sein. Auch von Straßburg her kamen
Herren, um ihm etwas abzukaufen oder edle Stücke in Auftrag zu geben.
    Nach dem Aufräumen wurde
es für Bernina Zeit, in die Küche zu gehen, eine Kerze anzuzünden und das
Abendbrot vorzubereiten. Schweigend wurde gegessen, nur der unaufhörliche Regen
lehnte sich gegen die Stille auf. Bernina entging nicht, dass der Meister sie
dann und wann mit verstohlenen Blicken streifte. So wie bei ihrer Ankunft.
Vielleicht erwartete er noch immer, dass sie nur eine günstige Gelegenheit
abpasste, um verschwinden zu können.
    Doch damit schätzte er
sie falsch ein. Er hatte ihr in einer mehr als misslichen Lage geholfen. Ob er
nun ein sonderlich netter Mensch war oder nicht – sie hatte ihm zugesagt, dass
auch sie ihn unterstützen würde. Und genau das hielt sie ein.
    Für die Nacht rollte sie
sich auf einer Strohmatratze zusammen. Schwarzmaul hatte ihr eine Kammer
überlassen, eigentlich eher einen Verschlag, der in den Freiraum unter der nach
oben führenden Treppe eingelassen worden war. Nur dann war sie allein, nur dann
erreichten sie die Gedanken, denen sie sich tagsüber verschloss. Der Schmerz
kehrte zurück, die Qual jener Nacht in dem Teichdorfer Gefängnisturm, in der
die Krähenfrau in einen willkürlichen, durch nichts zu rechtfertigenden,
grausamen Tod geschickt worden war.
    Sehnsucht nach Anselmo
breitete sich in ihr aus. Sie dachte an die Warnungen, die er anfangs
ausgesprochen hatte. Hätte sie seinen Worten doch nur mehr Beachtung geschenkt!
Ihm war klar gewesen, dass es für Bernina gefährlich werden könnte in
Teichdorf. Zumindest geahnt hatte er es.
    Und doch hatte er sie
allein gelassen. So war es nicht nur Sehnsucht, die aufkam, wenn sie sein
Gesicht vor sich sah. Auch die Enttäuschung darüber, dass er auf einmal ein
anderer geworden, von einem Tag auf den nächsten verschwunden war. Ohne den Mut
zu haben, ihr in die Augen zu blicken und es auszusprechen. Und nur diese
Nachricht zu hinterlassen, die nichts als leere Worte enthielt. In der
Zwischenzeit hätte Bernina sterben können, ohne dass er auch nur

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