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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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davon erfahren
hätte. Ihr kam es vor, als wäre bloß ein Brennen von Anselmo zurückgeblieben,
ein Schmerz in ihrer Seele. Oder war da doch mehr von ihm?
    Und da war noch ein
anderer Schmerz. Dieses quälende Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben. Denn
immer wieder musste sie auch an Nils Norby denken. Er hatte aus freiem Willen
so viel auf sich genommen. Nur um sie zu beschützen – und hatte dadurch den Tod
gefunden. Schuldgefühle, wie Bernina sie nie zuvor empfunden hatte, plagten sie
unablässig. Sie würden sie begleiten, solange sie lebte, das wusste sie.
    Es war sonderbar, über
all das nachzudenken und sich an Teichdorf zu erinnern, gerade hier in
Braquewehr. Bernina war in einer anderen Welt. Und noch hatte sie nicht genug
Kraft, den Schutz, die Abgeschiedenheit aufzugeben, die sie hier vorfand. Das
spürte sie, spürte es ganz deutlich. Vor allem in der Dunkelheit. Nächte der
Einsamkeit und Verlorenheit. Nächte, in denen hin und wieder ein bestimmtes
Geräusch Bernina hochfahren ließ. Nicht in jeder Nacht, aber immer wieder,
jedes Mal sehr, sehr spät, nachdem sie doch noch irgendwann in einen unruhigen
Schlaf gefallen war. Es war ein Klopfen, verhalten, leise. Doch jedes Mal, wenn
sie die schmale Tür ihres Verschlages aufstieß, kehrte eine tiefe Stille ein.
Bernina horchte in die Dunkelheit des Hauses.
    Nichts. Kein Klopfen
mehr. Überhaupt kein Ton mehr. Bis hin zum Morgengrauen, wenn die schlurfenden
Schritte von Nachtarbeitern erklangen, die die Aborte leerten.
    Die Tage hingegen waren
angefüllt mit Geschäftigkeit und Arbeit. So sehr der Hunger um sich griff, so
viele Menschen auch an Armut litten – die wenigen, die im Übermaß lebten,
reichten aus, um Meister Schwarzmauls Geschäft am Leben zu erhalten. Und es
sogar aufblühen zu lassen.
    Bernina wurde immer mehr
eingebunden. Inzwischen half sie beim Ziselieren und beim Verschönern von
Uhren, deren Gehäuse vergoldet und emailliert wurden. Pierre stand ihr zur
Seite, sichtlich erfreut über die Unterstützung. Der stumme Junge zeigte ihr
vieles und nahm sich immer ein paar Momente, um ihr einen Handgriff oder einen
Trick beizubringen, der die Arbeit erleichterte. Auffordernd sahen seine
schüchternen Augen sie an, wenn sie etwas wiederholen sollte, wie er es ihr
vormachte. Stellte Bernina sich geschickt an, war er ebenso erfreut wie sie.
Heftig nickte er dann, stets mit einem Lächeln.
    Auch Meister Schwarzmaul
entgingen ihre Forschritte keineswegs. Noch immer gab er sich barsch, noch
immer klang sein Hi, hi, hi irgendwie gehässig, und dennoch war er verändert.
Weniger während der Arbeit, eher beim Abendessen. Im Gegensatz zu den ersten
Tagen überraschte er auf einmal mit Gesprächigkeit. So erfuhr Bernina, dass er
aus Augsburg stammte. »Da sind die besten Goldschmiede der Welt zu Hause«,
verkündete er voller Überzeugung. »Aber mir war es nicht vergönnt, dort zu
bleiben.«
    »Und warum?«, erkundigte
sich Bernina. »Wenn ich fragen darf.«
    »Warum schon?« Er lachte
freudlos auf. »Wegen des verfluchten Krieges. Meine Frau, meine Tochter und
mein Schwiegersohn starben, als die Stadt von Angreifern irgendeiner
Teufelsarmee unaufhörlich mit Kanonen beschossen wurde.«
    »Mein Gott, das tut mir
sehr, sehr leid für Sie.«
    »Wenn Sie so etwas
sagen, Kindchen, dann glaubt man es sogar.«
    »Und ob Sie das glauben
können!«
    »Deswegen schätze ich
Sie so.« Anders als sonst hörte sich seine Stimme an, während er die Augen
gesenkt hielt. »Weil alles, was Sie sagen, aufrichtig klingt.« Noch immer sah
er nicht auf. »Es mag sein, dass Sie irgendetwas auf dem Kerbholz haben,
Kindchen. Aber das soll mich nicht weiter stören. Hi, hi, hi.«
    »Und wie kam es, dass
Sie nach Braquewehr gelangten, Meister Schwarzmaul?«
    »Ach, in meiner Heimat
hielt mich einfach nichts mehr.« Er schnaufte. Das Bissige hatte sich
tatsächlich aus seinen Zügen verflüchtigt. »Zu viele Erinnerungen, die mir
wehtaten. Und immerzu dieser Krieg. So ließ ich mich treiben. Nach Westen, aber
es hätte genauso gut jede andere Himmelsrichtung sein können. Es gibt ohnehin
keinen Weg, den der Krieg nicht kennt. Er taucht überall auf.«
    Bernina und auch Pierre,
der seinen Meister so wohl nicht kannte, hörten ihm zu. »Also hat es Sie bis
ins Elsass verschlagen«, meinte Bernina nach einer Weile.
    »Ich hatte schon früher
von diesem Landstrich gehört. Davon, dass die Leute in dieser Gegend nichts vom
Kämpfen wissen wollen. Und dass auch hier eine

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