Die Sehnsucht der Krähentochter
aus der Umgebung des Petersthal-Hofes nur zu gut kannte. Es war ein
Städtchen, das sich regelrecht zusammenrollte, sich duckte, geschützt von einem
zinnenbekrönten Mauerring.
Die Hufe des Esels
erreichten eine Straße. Anton Schwarzmaul sagte kein Wort. Mit seinem üblichen
garstigen Gesichtsausdruck hockte er da und hielt die Zügel fest. Wieder fiel
Bernina auf, wie schmal seine Hände waren. In welchem Metier ist er wohl ein
Meister?, fragte sie sich.
Während irgendwo hinter
dem Wagen ein letzter Rest Tageslicht waberte, stieg der Mond bereits über
gotische Türme und Spitzbögen. Die glasierten Dachziegel der Kirche glänzten
silbern – ein scheinbar alles beherrschender Bau aus gelbem und rotem
Sandstein, viel prächtiger als die Fachwerkgebäude, von denen sich die meisten
schief und niedrig aneinanderdrückten und nur für enge Gassen Raum ließen.
Kopfsteinpflaster,
funkelnd vom Regen, führte in den Ort und mündete in die offenbar einzige
Straße, die etwas breiter war. Einige Handwerker hatten ihre Läden noch
geöffnet. Aus den halb unterirdischen Arbeitsräumen der Weber erklang das
Klappern der Webstühle. Manche der Arbeiter trällerten dazu Psalmenmelodien.
Hinter dem einen oder
anderen Fenster schimmerte warmes Licht. Ein Geruch von Kohlsuppe lag in der
Luft, mischte sich mit dem Aroma von brennendem Holz und Asche. Das Rad einer
Mühle, das eben noch geklopft hatte, kam zur Ruhe – der Müller hatte
Feierabend. Die Gassen waren leer, abgesehen von ein paar alten Frauen, die
anscheinend der Abendmesse zustrebten.
Vor einem dunklen zweigeschossigen
Haus mit kleinem Vorhof hielt Schwarzmaul den Wagen an. Der Bau war von
schmalen Gärten umgeben. Ein Dreiecksgiebel bekrönte den Eingang. Ähnliche
Häuser mit Ziergärten bildeten die Nachbarschaft. Schwarzmaul war wohl kein
adliger, aber ganz gewiss kein armer Mann. Auch wirkte er durchaus gebildet.
Allein schon seine Hände bewiesen, dass er noch nie auf einem Feld gearbeitet
hatte.
Trotz seiner Bildung
jedoch schien er ebenso abergläubisch zu sein wie die meisten einfachen Leute.
Berninas Blick fiel auf Kränze aus Johanniskraut und Majoran, die an der
Haustür hingen. Man sah so etwas nicht selten: Schutz gegen Hexerei und böse
Zauberkräfte.
»Der Teufel mag das
nicht, er fürchtet sich sogar davor«, zischte Anton Schwarzmaul, als er
bemerkte, wo sie hinsah.
Sie stiegen ab.
»Pierre!«, brüllte
Schwarzmaul. »Wo steckst du denn schon wieder, du verfluchter Faulpelz?«
Er trat zur Tür, riss
sie mit einem kräftigen Ruck auf und drehte sich zu Bernina um. Seine
Nadelkopfaugen musterten sie argwöhnisch. Als rechnete er damit, sie könne
jeden Moment loslaufen und das Weite suchen.
Bernina raffte die Decke
vor ihrer Brust. Sie fröstelte.
»Na los, Kindchen,
worauf warten Sie?«
Die Tür quietschte in
den Angeln, schwarz klaffte das Viereck des Rahmens vor Bernina.
*
Aus einem bleiernen Himmel fiel unablässig Regen, der sich in
weiten Schleiern zu Boden senkte. Bäche wurden zu Flüssen, Flüsse schwollen zu
Strömen, die Menschen und Vieh mit sich rissen. Die Flut ertränkte die dürren
Ähren, setzte Rübenfelder unter Wasser, verwandelte Weiden in übel riechende
Sümpfe. Die Pfützen waren so tief, dass ihr Wasser ins Innere von Kutschen
quoll. Hagel fegte in Kaskaden über das Land, erschlug Hühner und Gänse,
zerstörte Getreide. Wolken grau und eitergelb. »Sie sind geladen mit
Hexengift«, sagten die Leute von Braquewehr. »Sie bringen Unheil und
Verderben.«
Das anhaltend schlechte
Wetter konnte nur ein böses Zeichen sein, ein Vorbote des Weltuntergangs,
ebenso wie die Wölfe, die sich hier vermehrt hatten wie anderswo. Die Stürme
wurden als himmlisches Abbild der Schandtaten verstanden, die sich schon so
lange auf Erden abspielten: seit jenem über 20 Jahre zurückliegenden Tag, als
der große Schlachtenirrsinn begonnen hatte. Aus Gründen, die niemanden mehr
interessierten.
Immer mehr Bettler
strömten aus allen Richtungen heran und brachten schlimme Nachrichten mit: Die
herumziehenden, Blut verströmenden Truppen der Franzosen waren auf die Armee
des Kaisers getroffen. In Baden war es zu ersten großen Gefechten gekommen, die
an die Schlachten drei Jahre zuvor erinnerten. General D’Orville, der
französische Oberbefehlshaber, der von Arnim von der Tauber unterstützt wurde,
sammelte in der Nähe von Freiburg alle Kräfte, um bald seinen stärksten Gegner
zu stellen: General Benedikt von Korth, der
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