Die Sehnsucht der Krähentochter
erzählt hatte, über die
Gerüchte, die den Schweden als Verräter seines eigenen Königs auswiesen. Es war
so schwer, diesen Mann zu durchschauen. Sie nahm sich vor, weiterhin vorsichtig
zu sein, und ließ sich nicht in die düstere Stimmung hinabziehen, die mit den
Gedanken an Teichdorf in ihr aufkam. »Sagst du mir jetzt, wohin wir unterwegs
sind?«, wandte sie sich wieder an Norby.
»Du weißt es doch
bereits: nach Valencia.« Nüchtern, wie er die Worte betonte.
Natürlich hatte sie
diese Antwort erahnt, aber es aus seinem Mund zu hören, war etwas anderes. Das
Ziel war nahe, genau wie Norby es am Vorabend ausgedrückt hatte.
»Wenn du möchtest«,
sagte er, »kann ich allein zu den Männern zurückkehren und ihnen sagen, du
hättest es mit den Nerven bekommen und wärst auf und davon. Oder wir überlegen
uns eine andere Erklärung, die sich besser anhört.«
Sie zögerte. »Vielleicht
ist das keine schlechte Idee«, meinte sie dann ausweichend.
»Dir ist klar, dass ich
dir nicht helfen kann. Was immer dich in Valencia erwartet – du bist auf dich
allein gestellt.«
»Und ob mir das klar
ist.« Diesmal war ihre Antwort rasch gekommen. »Ich hätte dich nicht um Hilfe
gebeten.«
»Ich habe es nicht böse
gemeint.«
Bernina nickte ihm kurz
zu und sah wieder nach vorn. Sie erkannte, wie unentschlossen sie war. Und das,
obwohl sie doch seit Tagen unentwegt darüber nachgrübelte, was sie tun, wie es
weitergehen sollte. Wieder kam ihr diese Villa mit den Palmen in den Sinn. Was,
wenn das Anwesen gar nicht existierte? Wenn Irmtraud nur etwas falsch
verstanden hatte? Und Anselmo? Wenn er längst tot wäre … Wenn, wenn, wenn …
Diese Gewissheit, sich Hals über Kopf in ein riesiges Dunkel gestürzt zu haben,
raubte Bernina den Atem.
Unbewusst fiel ihr Blick
auf den roten Stoff, der auf ihren Schultern lag. Die Rose funkelte im
Sonnenschein. Ausgerechnet Bernina kleidete sich mit diesem Symbol des Unheils.
Und schon wieder jagten ihre Gedanken zu der Villa. Sollte sie auf Norbys
Vorschlag eingehen und ihn mit seiner Truppe verlassen, um dieses Gebäude zu
finden? Oder war es sogar besser, bei ihm zu bleiben? Womöglich führte sie
diese aus Goldfaden gebildete Blume, auf die sie hinuntersah, direkt an ihr
Ziel. Zu den Männern, die Anselmo in Gefangenschaft genommen hatten. Zu
Anselmo.
Es war noch nicht
Mittag, als sie an einem Teich eine Rast einlegten. Während sie die Pferde
tränkten, bedankte sich Norby für Berninas Hilfe. »Mein Auge heilt. Es tränt
nicht mehr. Ich kann schon wieder so gut sehen wie vor der Erkrankung.«
»Das freut mich sehr«,
war alles, was sie erwiderte.
Nachdem sie ihre
Wasserflaschen gefüllt hatten, setzten sie sich ans Ufer des Teiches. Bernina
nahm die Nähe Norbys wahr, und die Tage ihrer Flucht waren wieder ganz nahe.
Dabei sollte sie doch an Anselmo denken. Hatte sie ihn zu schnell verurteilt?
Gefangner der Männer mit der Rose. Traf das wirklich zu? Der Brief, der von
einer Unbekannten namens Isabella stammte … Anselmos plötzliches Verschwinden …
Schon einmal waren sie
und ihr Mann voneinander getrennt worden, kurz nachdem sie beschlossen hatten
zu heiraten. Der Krieg hatte sie auseinandergerissen, und damals war es Bernina
gewesen, die versucht hatte, Berge zu versetzen, um ihn zurückzugewinnen. Sie
hatte immer gedacht, dass in einer Partnerschaft Gleichmäßigkeit herrschen
sollte, die vollkommene Balance. So wie auf dem Seil, beim Seiltanz. Doch
inzwischen zweifelte sie. War es etwa eher so, dass es immer einen geben
musste, der mehr Leidenschaft in die Waagschale warf, der mehr kämpfte? Der mehr
liebte?
Quäle deinen Kopf nicht
damit, sagte sie sich. Solche Gedanken führen zu nichts. Als du in Braquewehr
die Chance sahst, etwas über Anselmos Verbleib zu erfahren, vielleicht sogar zu
ihm zu gelangen, hast du keinen Moment gezögert. Und das war richtig so.
Womöglich ergab sich auch die Gelegenheit, mehr über die Männer mit der Rose zu
erfahren. Bernina betrachtete sich im Teichwasser, ihr auf dem langen Weg
schmaler gewordenes Gesicht unter dem tief herabgezogenen Hut.
Was ist, fragte sie
sich, wenn du Anselmo nicht findest? Was dann?
Sie stand auf und ging
ein paar Schritte. Dann kniete sie sich hin, um sich Wangen und Stirn zu
befeuchten. Unwillkürlich kam ihr der Regen in den Sinn, der ihr Haar, ihre
Kleidung getränkt hatte, als sie von den Männern an einem Seil vom
Petersthal-Hof bis nach Teichdorf geschleift wurde. Zum ersten Mal sah sie
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