Die Sehnsucht der Krähentochter
wieder Nüchternheit in ihre Stimme zu legen.
Ohne etwas zu äußern,
betrachtete Norby die kleine, unauffällige Pflanze mit den weißen
Blütenblättern in ihrer Hand.
»Doch davon habe ich
nichts gefunden. Was aber nicht schlimm ist, denn soweit ich mich erinnere, hat
meine Mutter einmal gesagt, dass in Kamille etwas sei, das das Auge noch mehr
reizen könne.«
»Und was ist das für
eine Pflanze?«
»Ein Kraut, von dem man
hier recht viel findet. Den richtigen Namen kenne ich nicht. Aber nicht
zufällig wird es auch Augentrost genannt. Du kannst dich in den nächsten Tagen
damit behandeln.«
Er hob kurz die
Schultern. »Sehr gut. Danke.«
»Man muss es mit heißem
Wasser aufgießen, dann durch ein Sieb geben. Mit der Flüssigkeit wird ein Tuch
getränkt, das dann auf das geschlossene Auge gelegt wird.«
»Bestens, das kriege ich
hin.«
»Ich hoffe, es wird dir
helfen.« Bernina wandte sich ab von ihm, um zurück zum Lager zu gehen. Doch
seine Hand legte sich auf ihren Oberarm.
»Hast du nicht auch
Herztrostkraut für mich?«
»Ist etwas nicht in
Ordnung mit deinem Herzen?«
»Nur von Zeit zu Zeit.
Dann scheint es plötzlich wie wild zu schlagen. Als würde es aus der Brust
springen.«
Nils Norbys lässiges
Lächeln zeigte ihr, auf was er halb scherzend, halb im Ernst hinauswollte.
Rasch löste sie sich aus seinem Griff, um sich zwischen zwei Büschen
hindurchzuschieben.
»Möchtest du wissen,
wann mein Herz so heftig schlägt, Bernina?«
»Nein.«
Schritt für Schritt ging
sie weiter, und die Stimme des Schweden drang noch einmal zu ihr: »Immer, wenn
du in der Nähe bist.«
Bernina drehte sich
nicht mehr zu ihm um. Doch seine Worte ließen sie nicht los, hielten sie auch
noch fest, als sie sich wieder unter die Soldaten mischte, die dabei waren, ein
rasches Frühstück zu sich zu nehmen.
Kurz darauf setzte sich
die Truppe in Bewegung. Sie wand sich aus dem Wald und kroch die ersten Anhöhen
hinauf, ein Wurm, der langsam, aber stetig vorankam. Am frühen Nachmittag
brandete ein Unwetter auf und stoppte den Anstieg ziemlich abrupt. Die Soldaten
wurden mit ihren Reit- und Lastpferden in den Schutz eines großen langgezogenen
Felsvorsprungs gedrückt. Regengüsse und zum ersten Mal auch wieder die
Nadelstiche des Schnees. Der Wind brüllte, zerrte an den Männern, der Himmel
war auf einmal so schwarz wie in der Nacht.
Auf dem bisherigen Weg
nach oben hatte man durch Unachtsamkeiten zwei Männer eingebüßt. Sie waren mit
ihren Pferden in eine tiefe Schlucht gestürzt. Ihre gellenden Todesschreie
schienen selbst jetzt noch in der kalten Luft zu liegen. Zuvor war es nie zu
einem solch schlimmen Zwischenfall gekommen, und der hilflose Blick in den
Abgrund, der zum Grab wurde, lastete noch schwer auf den meisten der Soldaten.
Zum ersten Mal seit dem Aufbruch machte sich eine wirklich schlechte Stimmung
breit. Einzelne waren gereizt, Streit brach aus, beinahe überall Murren und
Stänkern.
Sowohl Norby als auch
Meissner erfassten die veränderte Situation sofort. Der Hauptmann stellte sich
vor die Männer, mitten in das Wüten des Sturms. Seine Stimme kämpfte gegen das
Trommeln des Regens: »Männer, hört mir zu!«
Die
Blicke suchten ihn, die Soldaten erwarteten seine Worte.
»Vor Kurzem habe ich
euch den Wolf gezeigt, gegen den wir kämpfen werden. Und euch von der Festung
berichtet, die es zu erstürmen gilt. Ihr Name lautet La visitación. Ein Wort,
das für mich Heimsuchung bedeutet. Denn genau das werden wir tun: Wie werden
diesen Ort heimsuchen und besiegen.«
Feldwebel Meissner schob
eine Holzkiste heran und ließ sie zu Norbys Füßen stehen. Die Kiste war beim
Zurücklassen der Wagen einem Packpferd auf den Rücken gebunden worden. Er
öffnete sie, und die Soldaten versuchten vergeblich, einen Blick auf den Inhalt
zu werfen.
Norby holte etwas aus
der Kiste heraus und hob es über sein Haupt in den peitschenden Regen. Es war
ein Stoffstück. Von derselben schillernd roten Farbe wie die Flagge mit dem
Wolf, jedoch nicht aus Seide, sondern aus einem derberen Gewebe.
Eine Windböe brach
krachend am Fels, und im nächsten Moment faltete der Schwede den Stoff
auseinander. Es handelte sich um einen Umhang. »Wir sind eine Einheit geworden,
Männer. Und dieser Stoff wird das für jeden Fremden, für jeden Feind auf den
ersten Blick sichtbar machen.«
In der Kiste befanden
sich viele dieser Umhänge, und Meissner hatte bereits begonnen, sie den Männern
zu übergeben. Jeder griff sich einen und
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