Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
Vom Netzwerk:
das
Gesicht Egidius Blums wieder vor sich, seine blitzenden Augen. Und sofort
verspürte sie diesen unbändigen Zorn auf den Pfarrer. Auch an den Geigenspieler
dachte sie, an den Mann, den sie nie gesehen hatte, der nur als Schemen in
ihrer Fantasie entstand.
    Sie rieb ihre nassen
Hände aneinander. Ihr fiel auf, dass die Luft dieses Landstrichs anders war,
praller, fetter. Ein eigenartiges Aroma hatte sich in ihre Reinheit gemischt.
Als Bernina sich erhob, zuckte sie zusammen. Nils Norby stand auf einmal dicht
bei ihr – sie hatte ihn nicht kommen gehört.
    »Ich wollte dich nicht
erschrecken«, meinte er leise.
    Auch er hatte sich
erfrischt. Er hatte Hemd und Wams ausgezogen, und seine nackte Brust kam
Bernina vor wie ein Gewölbe. Sie sagte nichts.
    »Woran hast du gerade
gedacht?«
    »An alles und nichts.«
    »Oder besser: an wen?«,
betonte Norby.
    »Du weißt, an wen ich
denke.« Bernina sah ihn an.
    »Ja. Ich weiß es«,
entgegnete er dumpf. Er fuhr sich durch sein langes Haar. »Und jetzt suchst du
weiter – weiter nach ihm. Und du hast wirklich nicht mehr Anhaltspunkte als den
Namen einer großen Stadt?«
    Die Villa, schoss es
Bernina durch den Kopf. Sollte sie ihm davon erzählen? Dass Nils Norby selbst
für das Wappen mit der goldenen Rose ritt, hatte alles verändert. Bernina
rätselte, wie weit sie sich vorwagen durfte. War Nils Norby auf einmal ein
Gegner?
    »Valencia«, sagte sie
schließlich. »Das ist tatsächlich meine einzige Spur.«
    Diese Stadt – und die
Rose, dachte sie insgeheim.
    »Der Zufall wollte es,
dass wir das gleiche Ziel haben. Obwohl es mir manchmal schwerfällt, an Zufälle
zu glauben.« Seine Augenbrauen hoben sich ironisch. »Ist es etwa unser
Schicksal, Bernina?«
    Sie ignorierte seine
Frage, seine Anspielung oder was immer es sein mochte. »Was sind deine
Anhaltspunkte?«, wollte sie stattdessen wissen. »In Valencia, meine ich. Wo
genau in der Stadt willst du hin?« Sie hörte selbst diese Wachsamkeit, die auf
einmal ihre Stimme beherrschte.
    Wachsam waren auch seine
Augen. Er schwieg.
    »Nach Valencia also«,
setzte sie erneut mit aller Vorsicht an – und wagte es schließlich: »Ich nehme
an, ein Haus mit Palmen spielt in deinen Plänen auch eine Rolle.«
    Nach wie vor sein
Schweigen.
    »Habe ich recht?«
    Er
lächelte schmal. »Ich habe plötzlich den Eindruck, du traust mir nicht. Aus
welchen Gründen auch immer.«
    »Eine
Villa?«, forschte Bernina weiter. »Sehr auffällig. Mit Palmen, die aus der
Neuen Welt kamen, aus Neu-Spanien. Oder wie immer die Spanier dieses ferne Land
nennen.«
    »Palmen?«,
wiederholte Norby, ohne dieses Lächeln einzubüßen.
    »Villa de
la Rosa«, sagte Bernina.
    »Das sagt mir nichts.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nur von der Festung gehört. La visitación.
Wegen ihr bin ich hier. Sie ist mein Auftrag.«
    Sollte
sie ihm glauben? Sollte sie ihm nicht glauben? Auf ihrer Flucht hätte Bernina
ohne Bedenken ihr Leben in seine Hände gelegt. Aber jetzt … Die Rose von
Alvarado hatte alles verändert.
    »Ich
habe einfach vor, in die Stadtmitte zu reiten«, erklärte Norby. »Die Angaben,
auf die ich mich stützen muss, sind weder sonderlich verlässlich noch genau.
Aber ich hoffe, trotzdem den Mann zu finden, den ich zuletzt in Ippenheim sah.
Er ist auf dem Seeweg in seine Heimat zurückgereist und erwartet mich bereits.
Falls ihm nichts zugestoßen ist.«
    »Ich
begleite dich«, entschied sie. »Auf jeden Fall bis nach Valencia. Das heißt,
wenn es dir noch recht ist.«
    Wieder das kurze Heben
der Augenbrauen. »Deine Gesellschaft, Bernina, ist mir mehr als nur recht. Aber
das habe ich dich ja deutlich spüren lassen.«
    Bernina wollte sich von
ihm abwenden, doch seine Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück. Noch näher stand
er vor ihr. »Kannst du dich an die Wölfin erinnern? Mit dem Silberstreifen im
Fell? Die ich einfach nicht erschießen konnte? Da haben wir zum ersten Mal
miteinander gesprochen. Du bist wie sie, Bernina.«
    Sie fühlte ein
Erschauern, dessen sie sich nicht zu erwehren vermochte. Es war, als würde Nils
Norbys Blick sie geradezu festnageln, sie umschlingen. Mit der anderen Hand
riss er den Hut von ihrem Kopf und warf ihn auf die Erde. Kräftige Finger
strichen durch ihre wild nachwachsenden Haarbüschel.
    »Nein«, flüsterte
Bernina.
    Doch sie tat nichts, um
sich aus seinem Griff zu befreien. Gar nichts. Sie sah sein Gesicht, seine
Augen auf sich zukommen, sie fühlte seinen nackten Oberkörper an ihrer

Weitere Kostenlose Bücher