Die Sehnsucht der Krähentochter
Brust,
sie roch seine Haut. Die rauen Lippen des Schweden lagen auf ihren. Und auch
das ließ sie zu. Ihre Lider senkten sich, es gab nur noch sie und diesen Mann.
*
Als Bernina ganz tief einatmete, erkannte sie endlich, welches
Aroma die Luft verändert hatte. Sie füllte ihre Lungen und roch das Salz. Die
sanften Windböen trugen es mit sich, legten es auf das Land. Es war ein
besonderer Moment, als sie vom Sattel aus das bläulich schimmernde Band am
Horizont entdeckte. Das Meer, unglaublich. Sie tätschelte den Hals ihrer
kurzbeinigen, dürren Stute aus Braquewehr, von der sie gar nicht glauben
konnte, dass sie diese weite, beschwerliche Strecke gemeistert hatte.
»Auf der Welt gibt es
nichts, was der See gleichkommt«, sagte Nils Norby. »Deinen ersten Blick aufs
Meer wirst du niemals vergessen.«
»Es ist wunderschön. Und
irgendwie überwältigend.« Leise erklang Berninas Stimme, als spreche sie nur zu
sich selbst.
Das waren die ersten
Worte, die zwischen ihnen gewechselt wurden, seit sie vom Teich aufgebrochen
waren. Blickkontakt vermieden sie weiterhin. Das Meer lag linkerhand, während
sie wieder ihrem südlichen Weg folgten, und es dauerte nicht mehr lange, bis
Bernina erneut einen Ozean entdeckte, ein Meer aus Stein, das sich vor ihnen
bis scheinbar ins Unendliche ausbreitete. Eine Stadt. Doch viel mehr als das.
Die bei weitem größte Ansiedlung, die Bernina jemals gesehen hatte. Sie
befanden sich auf einer Anhöhe, als sie die Pferde zügelten, und sie wusste
nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Ihr Blick folgte verschiedenen
Flussläufen, einigen schmalen und einem sehr breiten, der gleich von mehreren
Brücken überspannt wurde. Die letzte davon zierten eindrucksvolle Türme, die Teil
der Stadtmauer waren und sowohl Eleganz als auch die Solidität von
Befestigungsanlagen ausstrahlten. So viele Bauwerke, vor allem so viele
unterschiedliche. Spitze Dächer, Zwiebeltürme, Flachdächer, giebelförmige
Dachaufbauten. Und etliche Kirchen. Unmöglich, all die Glockentürme zu zählen.
Irgendwo aus der Mitte dieses Labyrinthes ragte der größte davon heraus, als
könne er in den blauen Himmel stechen wie der Degen eines Riesen.
Nils Norby wies auf
diesen Turm. »Dorthin müssen wir. Irgendwo in der Umgebung der Kathedrale
stoßen wir auf den Mann, der mich erwartet.«
Sie setzten ihre Pferde
in Bewegung. Langsam ritten sie die Anhöhe hinab, sie folgten dem Verlauf des
großen Flusses, reihten sich in die Schlange fremdartig wirkender Menschen, die
es auf Eseln, Ackergäulen oder auch zu Fuß ebenfalls zu dem Meer aus Stein
drängte.
Männer mit im
Sonnenlicht blitzenden Spitzhelmen kontrollierten das Tor in der Stadtmauer.
Bernina hielt sich im Hintergrund, während Norby ihnen ein paar Münzen
zusteckte und so für einen unbehelligten Zugang zur Stadt sorgte.
Und sogleich schien der
steinerne Ozean sie in seine Abgründe zu reißen – menschliche Ströme trieben
durch eine großzügig angelegte Kopfsteinpflasterstraße, die von hohen
Stuckmauern mit schmiedeeisernen Gitterfenstern gesäumt wurden. Tiefer und
tiefer in die Stadt, die sich nach der Einsamkeit der Berge und Ebenen wie eine
eigene verrückte Welt ausnahm, ein Universum, das vor Bernina und dem Schweden
pulsierte und vor Leben zu platzen schien, farbig, laut, schrill, vielbeinig.
Ein Bienenkorb von ehrfurchteinflößenden Ausmaßen. Sie mussten absteigen und
führten die Pferde mit der Hand.
Bernina bemühte sich
trotz des Durcheinanders, nicht den Überblick zu verlieren. »Wenn du zu der
Kathedrale willst, müssen wir uns weiter links halten«, riet sie.
Norby lächelte flüchtig.
»Wir werden doch nicht diese großartige Stadt beehren, ohne einen Blick auf den
Hafen zu werfen.«
Die Befangenheit, die
seit dem einsamen Teich auf ihnen beiden gelegen hatte wie Blei, hatte sich spätestens
mit dem Erreichen der gewaltigen Schutzmauer Valencias aufgelöst. Es fiel ihnen
wieder leichter, sich in die Augen zu sehen und miteinander zu reden. Und
weiterhin eine Masse an Menschen, an Gesichtern und Stimmen, an Geräuschen und
nie gehörter Musik, die an manchen Ecken mit seltsamen Instrumenten erzeugt
wurde. Schnelle, abgehackte Melodien. Sie flirrten um Berninas Ohren wie die
Insekten, die in diesem Land größer und aufdringlicher waren als in ihrer
Heimat.
In der Straße, der sie
mittlerweile folgten, hatten sich Händler versammelt, die laut auf Passanten
einsprachen, um auf ihr Angebot aufmerksam zu machen. Wein wurde
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