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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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entschied sie sich doch für einen Umweg. Sie überwand
eine von hohem Gras bewachsene Ebene und tauchte ein in den nächsten Wald.
Schatten legten sich auf sie. Nur noch langsam ritt sie voran. Als sich die
Bäume lichteten, band sie die Stute an einem Ast fest. Die Muskete in der Hand,
schlich sie sich an den Waldrand. Verborgen zwischen einigen Büschen, ging sie
in die Knie.
    So sahen sie also aus,
diese wundersamen Bäume, von denen sie erstmals in Braquewehr gehört hatte. Die
langen, schlanken Stämme, bekrönt von sattem Grün und ohne einen einzigen Ast.
Berninas Blicke strichen um das Haus, von dem sie nur etwas mehr als 20 Meter
entfernt war. Rotweiße Säulenreihen rahmten das ebenerdige Gebäude ein. Mit
weißem Kies bedeckte Wege führten auf ein offenes, ebenfalls von Säulen
flankiertes Portal zu, durch das man in den Innenhof gelangte – der allerdings
war für Bernina nicht einsehbar. Über dem Portal, umrahmt von einem Viereck aus
Fliesen, hatte man mit Farbe ein Symbol gezeichnet: die goldene Alvarado-Rose.
    Hinter dem Anwesen
Stallungen, ein Fluss. Schilf an den Ufern, üppig wucherndes Gesträuch. Winzige
rote Pünktchen, offenbar Beeren.
    Gleichzeitig behielt
Bernina auch die nähere Umgebung im Auge. Unablässig war sie auf eine große
Staubwolke gefasst, die sich aus der Ferne auf die Villa zubewegen konnte – die
Armee der Unsichtbaren. Wenn sie hier etwas herausfinden wollte, durfte sie
nicht allzu viel Zeit verlieren. Doch die gemalte Rose, die das Sonnenlicht
funkelnd zurückwarf, überzeugte sie davon, dass es besser war, nach wie vor
Vorsicht walten zu lassen.
    Aus der Landschaft
schälte sich schon bald eine kleine Kalesche, die von vier Reitern eskortiert
wurde. Jeder von ihnen trug einen jener roten Umhänge, die Bernina nur zu gut
kannte. Doch sie gehörten nicht zu Norbys Truppe. Ihre schwarzen Haare und ihre
sauberen Stiefel wiesen sie eindeutig als Einheimische aus. Vor dem Portal,
umhüllt von aufwirbelndem Staub, wurde Halt gemacht. Ein eleganter Herr
entstieg dem Gefährt und verschwand mit langen Schritten in den Innenhof. Juan
Alvarado.
    Berninas Aufmerksamkeit
galt den vier Begleitern. Besonders einem davon. Es war genau wie auf dem Ritt
hierher – sie spürte ihren Herzschlag ganz deutlich, das Blut in ihren Adern.
    Die Kalesche und die
Pferde wurden in den Stallungen gelassen, und der Kutscher und die Reiter
gingen zurück zur Villa, wo sie ebenfalls im Innenhof aus Berninas Blickfeld
entwichen.
    Sie zog sich etwas
weiter zurück in die Sträucher, die ihre Wangen und Hände kratzten.
    Und jetzt?, fragte sie
sich.
    Während ihres letzten
Gesprächs mit Nils Norby hatte sie gewusst, was sie tun würde. Nun war sie sich
alles andere als sicher.
    Und jetzt?
    Weiterhin der Zwiespalt:
Die Zeit drängte, und zugleich war Bedachtsamkeit gefragt. Wann würden Norby
und seine Männer hier sein? Gewiss, Bernina hatte ihnen gegenüber einen klaren
Vorsprung, doch sie hatte auch viel Zeit eingebüßt.
    Als hätte der Himmel
Mitleid mit ihr, schob er eine Decke aus grauen Wolken über den Wald und die
Villa. Noch bevor die ersten Tropfen fielen, hatte sich eine düstere
herbstliche Dunkelheit breitgemacht. Bernina glitt aus ihrem Versteck, näherte
sich langsam und gebückt dem Anwesen. Doch schnell wurde klar, wie gut seine
Bauweise es schützte. Der Regen fiel dichter, und Bernina ärgerte sich über
ihre Dummheit, den Hut so gedankenlos weggeworfen zu haben. Sie durchwatete den
Flusslauf. Das Wasser, das ihr bis zu den Knien reichte, brachte sie zum
Erschauern. Nach wie vor gebückt, die schwere Muskete in den Händen, ließ sie
die Stallungen hinter sich. Den Rücken an die Wand gepresst, ging sie das
Gebäude ab. Doch um irgendetwas herauszubekommen, hätte sie in den Innenhof
gelangen müssen. Das allerdings wäre ihr niemals geglückt, ohne entdeckt zu
werden. Immerhin wusste sie nicht, ob sich noch mehr Männer mit den roten
Umhängen in der Villa aufhielten.
    Bist du irgendwo hier,
Anselmo? Hilflos starrte Bernina auf die Mauer. Und dann dachte sie wieder an
den Mann, dessen Anblick vorher ihren Puls so sehr beschleunigt hatte.
    Aus einem Fenster über
ihr drangen die harten Fetzen jener fremden Sprache, die sie erstmals in
Teichdorf gehört hatte. Sofort erkannte sie die Stimme Juan Alvarados. Ein
anderer, offenbar jüngerer Mann antwortete und schien dann mit raschen
Schritten den Raum zu verlassen.
    Was du tust, ist völlig
sinnlos!, sagte sich Bernina. Sie wusste nicht

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