Die Sehnsucht der Krähentochter
mehr weiter.
Der Regen hörte so
schnell auf, wie er begonnen hatte, das graue Wolkenband jedoch blieb.
Plötzlich das Lachen einer Frau. Das Lachen wurde lauter – die Frau kam
offensichtlich auf Bernina zu.
Sie beeilte sich, zurück
zu dem Stall zu gelangen. Ihre nassen Stiefel verursachten bei jedem Schritt
ein schmatzendes Geräusch. Geschmeidig glitt sie hinter eine Bretterwand. Im nächsten
Moment erblickte sie die Frau, deren Gesicht noch immer Heiterkeit ausdrückte.
Ziemlich jung, einfach gekleidet, womöglich eine Magd. In ihrer Begleitung
befand sich ein Mann mit Hut, Degen und einem roten Umhang – und Bernina atmete
durch, angespannt und zugleich auch erleichtert. So oft hatte sie sich in der
Vergangenheit gefragt, ob sie ihn erkennen würde, stünde sie ihm jemals wieder
gegenüber. Aber schon zuvor, als er noch im Sattel saß, auf einige Entfernung,
hatte es nicht den geringsten Zweifel für sie gegeben. Vielleicht war das der
Zufall, den sie unbewusst so herbeigesehnt hatte, der glückliche Umstand, der
ihr weiterhelfen würde.
Der Mann und die Frau
unterhielten sich auf Spanisch, schienen sich zu necken. Er versuchte, sie in
die Seite zu kneifen, sie wich aus, er versuchte, ihr einen Kuss auf die Wange
zu geben, und erneut entglitt sie ihm, wenn auch lachend. Sie schwenkte einen
großen Krug in der Hand, doch vielleicht war Wasserholen nur ein Vorwand für
die beiden, um ein bisschen zu zweit sein zu können.
Sie passierten Bernina,
ohne deren Anwesenheit zu bemerken. Weiterhin das Lachen, die Neckereien. Am
Fluss angekommen, tauchte die Frau den Behälter ins Nass, um ihn zu füllen.
Dann stellte sie ihn neben sich ab, um jetzt doch einen Kuss ihres Begleiters
zuzulassen. Offenbar lag ihr daran, das hohe Schilf und die Sträucher als
Blickfang zu nutzen. Zumindest war das Pärchen vor neugierigen Augen aus dem
Gebäude geschützt.
Was für Bernina nicht
weniger galt.
Mit
einer Entschlossenheit, die sich ihrer auf einmal bemächtigte, trat Bernina auf
die beiden zu – die Muskete im Anschlag.
Das
Gekicher der Magd erstarb, ihre dunklen Augen weiteten sich. »Pablo!«, entfuhr
es ihr. Der Mann drehte sich um und starrte in die Mündung der Waffe. Mit einer
Mischung aus Furcht und Verwunderung betrachteten die beiden Berninas Gestalt.
Eine Frau in abgewetzter Männerkleidung. Eine Frau, deren fest
aufeinandergepresste Lippen, deren konzentrierter Gesichtsausdruck Mut
verhießen.
Ohne
dass Bernina ihn dazu aufforderte, hob der Mann die Arme. Er äußerte ein paar
beschwörende oder beruhigende Brocken in seiner Sprache.
Bernina maß ihn mit
einem harten Blick. »Anselmo«, sagte sie. Ein einziges Wort. Aber es stand klar
und fest in der feuchten, kühl gewordenen Luft.
Lautlos zog ein Moment
an ihnen vorüber.
»Du kennst ihn! Du
kennst Anselmo! Wo ist er?« Wiederum hart der Ton in Berninas Stimme.
Unnachgiebig, mit dieser Entschlossenheit.
Der Mann murmelte etwas,
erneut auf Spanisch.
»Ich weiß, dass du meine
Sprache verstehst«, entgegnete Bernina rasch. Auch wenn sie sich dessen nicht
im Geringsten sicher sein konnte. »Ich weiß es. Und ich frage nicht zum Spaß.«
Mit der Muskete verlieh sie ihren Worten Nachdruck. »Wo ist Anselmo? Du kennst
ihn. Er ist euer Gefangener. Ich weiß auch das.«
Abermals sah sie ein,
dass sie im Grunde überhaupt nichts wusste.
Die Magd zitterte
leicht, der Mann schien immer noch verwirrt.
»Wo ist Anselmo?«,
fragte Bernina zum dritten Mal, und hinter ihrer Stirn hämmerte eine andere
Frage: Was soll ich tun, wenn er einfach den Mund hält? Was soll ich bloß tun?
Doch der Fremde nahm es
ihr ab, eine Antwort darauf zu finden.
»Ich weiß nicht, wo er
ist.« Leise die Worte, zwar mit dem rollenden Akzent, aber in Berninas Sprache.
»Das müssen Sie mir glauben.«
Sie sah ihn an, und
jener kurze Augenblick war wieder bei ihr – jener Moment, als dieser junge
Fremde mit Anselmo einen verständigenden Blick ausgetauscht hatte, damals auf
dem Kirchplatz in Teichdorf. Ein schmales, fast fein geschnittenes Gesicht, ein
dünner, geschwungener Oberlippenbart, welliges Haar. Er war es. Zumindest das
wusste Bernina. Daran gab es für sie keinerlei Zweifel.
»Es bringt nichts, mich
anzulügen. Sag mir jetzt, wo er ist.« Ruhiger nun ihre Stimme, lässiger. So wie
Nils Norby womöglich in einer solchen Situation geredet hätte.
»Ich lüge nicht. Er war
unser Gefangener, das gebe ich zu.«
Irmtraud hatte also
recht!, schoss es Bernina durch den
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