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Die Sehnsucht der Krähentochter

Die Sehnsucht der Krähentochter

Titel: Die Sehnsucht der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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zaudernd hob sie die
Schultern. »Und weil mir sowieso nicht recht klar ist, wo wir uns befinden,
gönnen wir uns hier ein wenig Ruhe. Auch wenn die Zeit drängt.« Unwillkürlich
musste sie an Nils Norby denken. Wo mochte er jetzt sein? Zurück bei seinen Männern?
Ganz sicher.
    Bernina führte die Stute
zwischen ein paar Felsen, deren Weiß sich vom Dunkel der Nacht abhob. Sie ließ
sich einfach auf der Erde nieder, das Ende der Zügel sicherheitshalber in der
Hand, ihren steif gewordenen Rücken an einen großen Steinbrocken gelehnt. Erst
jetzt nahm sie wahr, dass es doch kühler geworden war. Die Stute schlief. Müde
und hellwach in einem, lauschte Bernina den Geräuschen der Nacht, dem kaum
hörbaren Plätschern des nahen Wassers, dem heiseren Rufen eines Käuzchens, dem
Knistern der Stille.
    Die Ereignisse des Tages
suchten Bernina heim, setzten sich vor ihren Augen zu verschwommenen Bildern
zusammen. Sie hatte natürlich längst erahnt, dass es nur ein Vorwand von Norby
gewesen war: Er hatte nach dem Treffen mit Juan Alvarado nicht noch etwas
anderes in Valencia erledigen müssen, wie er sich ausgedrückt hatte. Ein
Vorwand, um ihr die Gelegenheit zu geben, einen Entschluss zu treffen.
    Die Frage war bloß, ob
sie die richtige Entscheidung gefällt hatte.
    Jetzt und hier, verloren
in der Nacht, deren Windböen heftiger wehten, waren sie wieder da, die alten
Zweifel. Zweifel an sich selbst. Vor allem weil sie sich womöglich zu oft auf
ihr Gespür verlassen und ihren Impulsen nachgegeben hatte.
    Das Pferd trat im Schlaf
ein paar Mal heftig mit dem Vorderhuf auf. Als wollte es Bernina aus ihren
Selbstzweifeln aufschrecken. Sie blinzelte in die Dunkelheit und versuchte sich
immer wieder die Einzelheiten der beiden Landkarten vor Augen zu führen. So
intensiv stellte sie sich die skizzierten Bergzüge, die angedeuteten Flussläufe
und das Kreuz vor, das angeblich eine Villa markierte, bis alles miteinander
verschmolz und sie einnickte.
    Kein Traum überfiel sie,
kein Laut ließ sie hochfahren. Erst die Sonnenstrahlen, die ihr grell ins
Gesicht stachen, brachten sie dazu, die Augen aufzuschlagen. Ihre Glieder
schmerzten von der unbequemen Haltung während des Schlafes, ein bitterer
Geschmack von Sand war auf ihren Lippen. Die Ungewissheit, die in der Nacht so
sehr an ihr genagt hatte, war mit der Dunkelheit keineswegs verschwunden. Im
Gegenteil, Bernina empfand sie als noch bedrückender.
    Sie erfrischte sich mit
etwas Wasser aus ihrem Trinkschlauch und spähte in die Weite. In beträchtlicher
Entfernung Valencia und das flirrende Band des Meeres. Ansonsten war nichts zu
sehen, kein Weg, keine befestigte Straße, kein Lebewesen. Die Stute fand ein
paar Grashalme und rupfte mit ihren großen Zähnen daran herum. Bernina streckte
sich und schwang sich in den Sattel. Zögernd ließ sie erneut ihren Blick kreisen.
    Auf einmal das Krächzen
eines Vogels. Laut kam es Bernina vor, beinahe alarmierend. Sie entdeckte das
Tier im grenzenlosen Nichts des Himmels. Eine Krähe. Wiederum ein
durchdringendes Krächzen. Für einen Moment schien das Gefieder in einem
bezwingenden Blau aufzuschimmern. Bernina beschattete ihre Augen mit der Hand.
Die Krähe beschrieb einen Bogen und zog dann in nördlicher Richtung davon,
plötzlich irgendwie zielstrebig. Eine ganze Weile folgte Berninas Blick dem
Vogel, dann trieb sie das Pferd mit einem Druck ihrer Knie an. Die Einzelheiten
der beiden Karten. Es fiel ihr wieder leichter, sich daran zu erinnern. Noch
mehr Druck ihrer Knie, ihrer Oberschenkel, und die Stute wurde schneller,
beweglicher. Ein letztes Mal hörte Bernina den Schrei der Krähe, ohne dass sie
den Vogel noch hätte sehen können.
    Im Norden zeichneten
sich die Ränder eines offenbar dichten Waldes ab, und Bernina gewann an
Zuversicht. Sie musste sich allein auf ihr Gedächtnis verlassen, aber etwas in
ihr bestärkte sie darin, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Sie fühlte,
wie ihr Herz schlug, wie das Blut in ihren Adern strömte. Sie hielt sich am
Rand des Waldes, den Blick immer in die freien Ebenen gerichtet. Die Hufe
trommelten einen beständigen Rhythmus. Es wurde wieder wärmer. Am Ende des
Waldstücks stieß Bernina auf einen Pfad, dem sie folgte, weiterhin in grob
nördlicher Richtung, und plötzlich am Horizont, im Schatten eines weiteren
Waldstücks: ein einsames Gebäude.
    Sofort wurde sie noch
wachsamer, angespannter. Tiefer duckte sie sich über den Kopf des Pferdes. So
sehr es sie auch drängte,

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