Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
Überraschung, Jubal. Ich bin überzeugt, dass du schon ausgehungert zur Welt gekommen bist. Seid ihr bewaffnet?« Joie stieg in ihre Stiefel und schob ein Messer in die innen eingebaute Lederscheide.
Gary zog eine Augenbraue hoch, doch Gabrielle zuckte nur mit den Schultern und sagte schmunzelnd: »Wir sind daran gewöhnt. So ist sie nun mal, unsere Joie.«
»Natürlich bin ich bewaffnet.« Jubals Lächeln verblasste, und er wandte sich mit ernster Miene Gary zu. »Bist du es?«
Ein kleines Schweigen entstand. Gabrielle presste die Lippen zusammen. Joie und Jubal warteten gespannt auf Garys Antwort. Falls er auch nur ein klein wenig an ihrer Schwester interessiert war, wäre es besser für ihn, wenn er sie zu schützen wüsste.
In keinster Weise eingeschüchtert, grinste Gary in die Runde. »Ich trage immer Waffen. Da ich bei den Karpatianern arbeite, bleibt mir gar nichts anderes übrig. Sie schlafen tagsüber, und falls die Untoten menschliche Marionetten losschicken, um ihre Ruheplätze ausfindig zu machen, müssen sie beschützt werden.«
»Na prima«, murmelte Gabrielle. »Wir müssen uns also nicht nur um Vampire sorgen, die uns umbringen wollen, sondern auch noch um andere Monster.«
Gary nickte. »Das ist traurig, aber wahr. Und vergesst nie den Geheimbund menschlicher Vampirjäger, die viele Leute jagen und zum Tode verurteilen, sie foltern und töten. Dies ist ein gefährlicher Teil der Welt, um darin zu leben, deshalb müsst ihr, wenn ihr bleibt, so viel wie möglich darüber lernen, euch jederzeit zu schützen – und grundsätzlich immer nur das Schlimmste erwarten.«
Jubal öffnete die Zimmertür. »Ich brauche mir keine Sorgen mehr über Ghule oder verrückte Vampirjäger zu machen, wenn ich nicht bald etwas esse. Also kommt schon!«, fauchte er seine Schwestern an.
Beide lachten ihn aus, folgten ihm jedoch gehorsam auf den Gang hinaus und die Treppe hinunter.
Gabrielle beugte sich zu Gary vor. »Jubal ist immer so grantig, wenn er Hunger hat«, flüsterte sie so laut, dass ihr Bruder es unmöglich überhören konnte. »Wir nennen ihn heute noch ›Brummbärchen‹.«
Jubal stöhnte. »Nur, damit du es weißt, Gary – schaff dir niemals Schwestern an.«
»Und nur damit du es weißt«, konterte Joie, die wie Jubal den Blick auf die wenigen Leute gerichtet hielt, die sich im Speisesaal befanden. »Du vergötterst deine Schwestern, und jeder weiß das.«
»Ja, das mache ich euch glauben, weil ihr sonst nicht meine Wäsche waschen würdet«, hielt Jubal dem entgegen.
Joie bemerkte, dass Gary genauso aufmerksam und wachsam war wie sie selbst und Jubal. Zum Abendessen gab es ein Buffet, was gut war, weil sich so jeder schnell die Gerichte holen konnte, die er wollte. Während Jubal sich einen großen Teller gesunder Speisen zusammenstellte, begnügte Joie sich mit einem Glas Saft und setzte sich an einen Tisch gleich neben der Tür, um notfalls schnell hinauszukommen.
Sie runzelte die Stirn, als sie sah, wie genussvoll ihre Geschwister aßen, die nach der Tortur in den Eishöhlen die Kalorien brauchten. Ihr dagegen drehte sich schon der Magen um, wenn sie nur an Essen dachte. Sie spürte, dass Gary sie beobachtete, und nahm ihr Glas in die Hand, damit er ihre Geschwister nicht darauf aufmerksam machte, dass sie nichts aß.
»Leben Sie immer hier, Gary?«, fragte sie ihn.
Er nickte. »Die Karpatianer brauchen mich. Meine Arbeit ist sehr wertvoll für sie und überaus befriedigend für mich. Diese Spezies ist zu außergewöhnlich, um sie aussterben zu lassen. Es muss einen Weg geben, das Problem des Geburtenrückganges zu lösen. Glauben Sie mir, Joie, es zerreißt einem das Herz, unter ihnen zu leben, sie kennenzulernen und dann mitansehen zu müssen, wie ihre wenigen Frauen entweder Fehlgeburten erleiden oder ihr kostbares, geliebtes Kind schon kurz nach der Geburt verlieren.«
»Ich kann mir vorstellen, wie schmerzlich das sein muss«, sagte Gabrielle mit aufrichtigem Mitgefühl in der Stimme. »Falls Sie nichts dagegen haben, würde ich mir gern ansehen, woran Sie arbeiten, wenn ich schon einmal hier bin. Vielleicht kann ich ja irgendwie helfen.«
»Normalerweise löschen Karpatianer alle Erinnerungen an eine Begegnung mit einem der ihren«, sagte Gary. »Ich war überrascht, dass Traian das nicht getan hat.«
Jubal blickte auf und machte ein finsteres Gesicht. »Nein, das hat er nicht. Und er braucht auch gar nicht erst auf die Idee zu kommen.«
Joie trat ihn unter dem Tisch. »Er
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