Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
sogar einen Namen. Traian Trigovise. Wie könnte ich mir einen solchen Namen ausdenken? Bisher hatte ich einen Namen wie diesen noch nicht einmal gehört. Traian hat einen Akzent – einen europäischen, sehr reizvollen Akzent. Er ist altmodisch und charmant, und ich kann nicht aufhören, mich wie zwanghaft mit ihm zu beschäftigen.«
Gabrielle umfasste Joies Hand noch fester. »Wann hat das begonnen? Wann hast du diese Stimme zum ersten Mal gehört?«
Joie zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Auch Jubal und Gabrielle schwiegen und warteten, bis sie bereit war. Schließlich seufzte sie wieder, weil sie es hasste, zugeben zu müssen, wann die Stimme begonnen hatte, zu ihr zu sprechen. Sie wusste, was ihre Geschwister denken würden, aber für sie war Traian real, und er war in Schwierigkeiten. Und deshalb musste sie ihn finden.
»Nachdem ich in Österreich angeschossen worden war. Ihr wisst ja, wie ich Krankenhäuser hasse. Als sie mich dorthin brachten, zog ich meine kleine Astralnummer ab.« Sie sah ihren Bruder und ihre Schwester kurz an und wandte den Blick dann wieder ab. »Denkt nicht, ich hätte nicht bedacht, dass ich vielleicht nur träumte, als ich ihn das erste Mal sah. Oder dass es die Nebenwirkungen der Narkose sein könnten oder so – doch es war und ist viel mehr als das.«
Wieder warf sie ihren Geschwistern einen raschen Blick zu. Sie hatte ihre volle Aufmerksamkeit, und offensichtlich bemühten sie sich zu verstehen.
»Ich habe schon seit langer Zeit Astralreisen unternommen. Erinnert ihr euch an all die Geschichten übers Fliegen, die ich euch als Kind erzählte?«
»Das waren doch nur Träume«, sagte Gabrielle.
Jubal schüttelte warnend den Kopf. »Sprich weiter, Joie.«
»Nun, ich schätze, es ist mir tatsächlich gelungen. Es ist wirklich so passiert. Das hier muss real sein. Ich glaube, dass der Kontakt zwischen Traian und mir dadurch zustande kam, weil wir beide in einem Sturm und in einem Kampf waren und zur gleichen Zeit verwundet wurden.« Sie zog hilflos die Schultern hoch. »Das ist für mich die einzige vernünftige Erklärung. Und dann ist er nicht mehr weggegangen. Ich konnte ihn in Gedanken zu mir sprechen hören. Er hat etwas Bedeutsames in den Höhlen gefunden. Und da ich ohnehin schon eine Reise mit euch hierher plante, dachte ich, dann könnte ich sie auch nutzen, um zu sehen, ob es ihn wirklich gibt.«
»Joie«, sagte Jubal mit leisem Tadel in der Stimme, »du sprichst von Gedankenübertragung? Mit jemand anderem? Ich weiß, dass wir über telepathische Fähigkeiten verfügen, aber wir sind noch niemand anderem begegnet, der sie hat.«
»Ist das wirklich so weit hergeholt? Ich kann mich an einen anderen Ort versetzen. Ich weiß, wann ich in Gefahr bin. Du bist unheimlich gut mit Mustern, und Gabrielle hat alle möglichen merkwürdigen Fähigkeiten. Wir alle können uns auf telepathischem Weg miteinander verständigen. Ist es so schwer zu glauben, dass auch andere es können? Ich muss dort runter, Jubal. Ich muss wissen, ob Traian real ist und ob er hier an diesem Ort ist. Denn ich spüre ihn. Ich kann es nicht erklären, doch es ist, als wäre er irgendwie in mich hineingekrochen, und ich brauche ihn. Ich muss mir Klarheit verschaffen. Und ich befürchte, dass er verletzt ist.«
»Warum hast du uns das nicht gleich erzählt, Joie?«, fragte Jubal.
»Weil ich die Stimme nicht verlieren wollte«, gab Joie unumwunden zu. »Ich war bei einem Psychologen. Er meinte, ich hätte einen Realitätsverlust erlitten, eine Art Schizophrenie, wahrscheinlich verursacht von der traumatischen Erfahrung, angeschossen zu werden. Ich wollte ihn nicht darauf hinweisen, dass ich mir nicht zum ersten Mal eine Kugel eingefangen hatte – dass es nicht meine schlimmste Verwundung war und auch nicht meine letzte sein wird. Ich habe die Medikamente nicht genommen, die der Seelendoktor mir verschrieb. Ich dachte, vielleicht wäre es gar nicht mal so schlecht, einen Teil meiner Zeit in einer Fantasiewelt zu verbringen. Schließlich funktioniere ich noch und mache meinen Job.« Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab, weil ihr Sinn für Humor sich selbst jetzt nicht unterdrücken ließ. »Glaubt ihr, viele Leute würden einen schizophrenen Bodyguard engagieren? Immerhin bekämen sie dann zwei zum Preis von einem.«
»Komm schon, Joie, du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass du verrückt wirst! Du bist …« Gabrielle unterbrach sich, um nach dem richtigen Wort zu suchen. »Du bist du.
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