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Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)

Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)

Titel: Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Feehan
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hatte die gewünschte Wirkung. Angespornt von der Tatsache, dass ihr Bruder ihre zunehmenden Ängste um Joie ganz offensichtlich teilte, kroch Gabrielle weiter.
    Erschrocken und schockiert über sich selbst, dass sie den Abstieg ohne Gabrielle und Jubal begonnen hätte, trat Joie von dem Abgrund zurück. Sie war eine erfahrene Bergsteigerin und Höhlenforscherin, für die Sicherheit stets an erster Stelle stand. Deswegen ergab ihr verrücktes Verhalten überhaupt keinen Sinn. Sie befand sich auf gefährlichem Terrain. Eine unerforschte Eishöhle konnte jederzeit zu einer Katastrophe werden für jemanden, der unüberlegt handelte.
    Joie presste die Fingerspitzen an die Augen, atmete mehrmals tief ein und aus und versuchte, das richtige Maß zu finden. Sie durfte das Leben ihrer Geschwister nicht gefährden. Sie wusste, dass sie mitgekommen waren, weil sie sich Sorgen um sie machten. Und sie selbst sorgte sich ebenfalls um ihren Verstand.
    Joie, du musst auf mich hören. Ihr seid in Todesgefahr hier unten. Es ist etwas Böses hier, und ihr müsst von hier verschwinden, bevor es zu spät ist .
    Joie sog scharf den Atem ein. Da war er wieder, ihr nicht realer Mann. Seine Stimme war gebieterisch, entschieden, sein Ton geprägt von absoluter Überzeugung. Aber es lag auch Schmerz darin. Er war irgendwo dort unter ihr und litt. Sie konnte spüren, wie nahe er ihr war. Er brauchte sie, ob er es zugeben wollte oder nicht. Sie war viele Male mit Rettungstrupps unterwegs gewesen, hatte einige sogar selbst geführt, doch das hier war etwas ganz anderes. Was auch immer Traians Verletzungen waren, er hatte sie sich nicht bei einem Kletterunfall zugezogen.
    Seine Angst um sie – um sie alle – setzte ihr zu und ließ sich nicht mehr ignorieren. Joie saß am Rand des Abgrunds und starrte in die dunkle Tiefe. Die nach außen gewölbten Eiswände machten den Kontakt unmöglich, sodass sie beim Abseilen frei in der Luft hängen würden und es schwierig sein würde, ihr Tempo abzubremsen. Sie würden ihre liebe Mühe haben, an einem vereisten Seil die Geschwindigkeit zu kontrollieren. Jubal und sie konnten sehr gut mit einer Abrollspule umgehen, aber für Gabrielle könnte es ein bisschen schwieriger werden. Joie blickte nicht auf, als ihre Geschwister zu ihr traten.
    Jubal legte Joie die Hände auf die Schultern. Dann blickte er sich aufmerksam in der großen Kammer um, ließ den Strahl seiner Lampe über die gewölbten Wände gleiten und sah sich die Ränder des Abgrunds an, um die Gefahren für sie einzuschätzen, falls sie sich entschließen sollten, sich in die dunkle Tiefe abzuseilen.
    »Joie«, sagte er dann so sanft wie möglich. »Du wirst mit uns reden müssen. Wir müssen wissen, was mit dir los ist. Höhlenforschung ist etwas, was uns allen immer Freude gemacht hat, und wir haben viele Jahre lang Höhlen untersucht, seit Mom und Dad uns schon als Kinder mit Ausrüstungen versorgten. Aber das hier ist nicht lustig. Es ist nicht mal sicher, und ich denke, das weißt du. Wir sind bereit, dir zu folgen und dich zu unterstützen, so gut wir können, doch dazu müssen wir verstehen, was mit dir los ist.«
    Gabrielle setzte sich vorsichtig neben Joie und nahm ihre Hand. »Also sag es uns bitte. Wir halten doch immer zusammen. Es besteht kein Grund, irgendetwas vor uns zu verbergen.«
    Ein kurzes Schweigen entstand. Dann seufzte Joie und ließ die Schultern hängen. Sie musste es jemandem erzählen. Ihre Geschwister hatten recht; sie war ihnen eine Erklärung schuldig. »Liegt Wahnsinn bei uns in der Familie?« Joie fuhr fort, in das schwarze Loch hinabzustarren. »Denn falls es so ist, hätte uns jemand warnen sollen.«
    »Du glaubst, du bist verrückt?« Jubal versuchte zu verstehen. Joie war diejenige, die ständig lachte und so gut wie nie ihren Humor verlor. Sie erhellte die Welt mit ihrem Lächeln, und er hatte noch niemals das Gefühl gehabt, dass sie unter Depressionen leiden könnte.
    »Ich höre Stimmen. Oder vielmehr …« Sie zögerte. »Eine Stimme. Immer dieselbe Stimme. Meistens nachts oder in den frühen Morgenstunden. Und wir führen Gespräche. Lange Gespräche. Manchmal sehr ernste und manchmal auch humorvolle.« Sie konnte die Röte spüren, die ihr in die Wangen stieg, und war froh, dass es in der Galerie so dunkel war. »Und hin und wieder auch erotische. Ich ertappe mich dabei, dass ich die ganze Nacht aufbleibe, nur um seine Stimme zu hören und mit ihm zu reden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat

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