Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
können wir nur, indem wir bei ihr bleiben und das hier mit ihr durchstehen.«
»Ich bemühe mich ja.« Gabrielle versuchte, die Zehen zu bewegen, um die merkwürdige Lähmung zu durchbrechen.
Joie drängte voran, als die Decke höher wurde und ihr das Gehen wieder ermöglichte. Irgendwann mündete der Gang in eine große Kammer.
»Hey, ihr zwei, hier drinnen ist es viel besser. Es ist wie eine große Galerie.« Sie leuchtete den Bereich mit ihrer Lampe aus und bemerkte die fingerähnlichen Gebilde um einen großen gähnenden Abgrund mitten in der Kammer. »Hier sieht es aus wie in einer Kathedrale. Überall haben sich Eiskugeln gebildet, und die unteren Schichten dieser Eisskulpturen sind in fantastischen Blau- und Grüntönen gefärbt.«
Joie blickte in den scheinbar bodenlosen Abgrund hinab, und ihr Herz hämmerte fast schmerzhaft hart vor Erwartung, nicht nur wegen der Entdeckung einer Höhle, die noch nie jemand betreten hatte, sondern auch wegen eines fiktiven Mannes, der ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.
»Eisstalagmiten en masse , Gabrielle, sie sind überall auf dem Boden, aber das bedeutet, dass die Temperatur hier unter den Gefrierpunkt geht! Wir werden vorsichtig sein müssen!«, rief sie über die Schulter und starrte wieder in das tiefe dunkle Loch hinunter.
Sie war immer beherrscht vom Reiz des Unbekannten, wenn sie in eine Höhle kam. Die Vorstellung, irgendwo zu sein, wo vielleicht noch nie zuvor jemand gewesen war, war stets ein unbeschreibliches Gefühl, das sie auch nur selten in Worte zu fassen versuchte. Sie musste das Unbekannte erforschen, war geradezu davon besessen, es zu tun. Sie hatte sich einen guten Ruf erworben, und viele Länder erteilten ihr die Genehmigung, Höhlen zu erforschen und zu kartografieren. Oft brachte sie auch Proben für Wissenschaftler mit. Das war zwar Gabrielles Bereich und nicht der ihre, aber sie assistierte ihr, so oft sie konnte.
»Es liegen auch ein paar Eisbrocken um die Öffnung herum, die ich entfernen werde. Wir können so etwas Gefährliches nicht über uns hängen lassen, wenn wir hinuntersteigen.« Sie benutzte ihren Eispickel, um so viele der Brocken loszulösen, wie sie konnte. Gelegentlich hörte sie das Knacken und Knirschen, das ihr verriet, dass das Eis von seinem eigenen Gewicht heruntergedrückt wurde und der Druck ein großes Stück wie eine Rakete hervorbrechen und mit genügend Kraft durch den leeren Raum schießen lassen könnte, um einen von ihnen zu töten.
»Beeilt euch, Jubal!«, rief sie. »Warum dauert das so lange?«
»Gabby braucht einen Moment. Entspann dich, Joie, und gönn dir eine Atempause, während ich mit ihr rede.«
Aber sie konnte nicht warten. Jede Faser ihres Körpers drängte sie dazu, sich zu beeilen. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Das Gefühl der Dringlichkeit vereinte sich mit dieser quälenden Angst in ihr, die sie nicht zum Verstummen bringen konnte. Sie stieg in ihr Gurtzeug, während sie mit aller Kraft versuchte, an der Realität festzuhalten. Traian brauchte sie. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musste zu ihm, so schnell es ging.
»Gabrielle! Jubal! Ich beginne schon mal mit dem Abstieg!« Joie überprüfte ihr Geschirr und blickte sich nach dem Kanal um. »Gabrielle! Jubal! Seid ihr okay?«
»Warte auf uns!«, befahl ihr Bruder. »Gabrielle hat ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache, und mir geht es genauso. Ich finde, wir sollten uns ein paar Minuten zusammensetzen und darüber reden. Das Ganze könnte uns mehr in Schwierigkeiten bringen, als wir wollen.«
Joie spürte das hysterische Lachen, das in ihr aufstieg, und unterdrückte es schnell. »Besprechen? Niemand steckt in größeren Schwierigkeiten als ich, Jubal. Ich kann nicht mehr zurück. Ich muss diesen Abstieg machen oder den Rest meines Lebens in einer Gummizelle verbringen. Und glaubt nur ja nicht, dass ich euch veräppele.«
Jubal griff nach Gabrielles Bein. »Sie scherzt nicht, Gabby; sie klingt überreizt, als stünde sie am Rande der Hysterie.«
»Ich kann nicht.« Gabrielle begann zu weinen.
»Beweg dich, Gabby, und zwar auf der Stelle!«, befahl er und erhob die Stimme, um sicherzugehen, dass seine jüngste Schwester ihn hören konnte. »Joie, untersteh dich, diesen Abstieg ohne uns zu machen! Du bleibst, wo du bist, bis wir dich erreichen! Wenn du nicht auf mich hörst, hole ich dich wieder hinauf und bring dich hier heraus!«
Jubal schlug diesen Ton nur selten bei seinen selbstständigen Schwestern an, doch er
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