Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
einem Minimum an Nährstoffen, so eingeschlossen im Eis, und trotzdem sind sie lebensfähig. Was für eine Fülle von Informationen es hier unten gibt!« Sie schenkte Joie ein schnelles, aufgeregtes Lächeln. »Wahrscheinlich hat noch nie zuvor jemand dieses Eis berührt. Kannst du dir die Mikroben vorstellen, die hier unten leben? Das ist der Traum eines Wissenschaftlers.«
Joie holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen, während ihr Blick zwischen den Tunneln hin und her wanderte, die zu anderen Kammern führten. Sie war Traian jetzt so nahe, dass sie schon fast sein Atmen spüren konnte. Irgendwo in diesem Labyrinth von Höhlen erwartete er sie. Ungehalten. Verärgert und erbost darüber, dass sie ihm nicht gehorcht und sich und ihre Geschwister in Gefahr gebracht hatte. Er war real, nicht bloß eine Stimme in ihrem Kopf und auch kein Teil einer gespaltenen Persönlichkeit. Er war real und lebendig, und er hatte Schmerzen. Starke Schmerzen, deren Pochen sie in ihrem eigenen Körper und in ihrem Schädel spüren konnte.
Sag mir, was hier los ist! , verlangte sie in einem Ton, der ihn zwang, sich mit der Person auseinanderzusetzen, die sie wirklich war, und nicht mit der, die er gern in ihr sähe.
Sag den anderen, sie sollen sich ruhig verhalten. Sie sind in Gefahr. Ich habe mir mit demselben Feind schon dreimal einen Kampf geliefert, seit du mich vor Wochen in der Höhle gefunden hast. Ich bin ein Gefangener, verwundet und extrem geschwächt. Ich kann euch in dem Kampf nicht viel helfen, und der Feind verfügt über Kräfte, die ihr unmöglich verstehen könnt.
Joie presste die Lippen zusammen, das Herz klopfte ihr plötzlich bis zum Hals. Sein Ton ließ keinen Zweifel an der Wahrheit seiner Worte zu. Er glaubte, was er sagte. Joie, die dazu neigte, Zuflucht zu Humor zu nehmen, um die Ruhe zu bewahren, verdrehte die Augen und ließ es Traian über ihre telepathische Verbindung sehen.
Entschuldige den Flaum in meinem Kopf, aber normalerweise bin ich in Watte oder Blisterfolie gepackt, um mich vor all den schlechten Menschen auf der Welt zu schützen.
»Jubal, Gabby, wir müssen ruhig sein. Irgendetwas ist hier bei uns, und es ist nichts Gutes.«
Joie übernahm die Führung, und Jubal bildete die Nachhut, um seine Schwestern zu beschützen. Keines der Geschwister stellte Fragen. Sie kannten Joie und wussten, wie gut sie war in ihrem Job und dass sie von einem Moment auf den anderen in den Jäger/Beschützermodus gewechselt hatte. Sie vertraute Jubal. In einem Kampf war er der zuverlässigste Mann, den sie kannte, und sie hatte schon mit vielen guten Männern zusammengearbeitet.
»Sag uns, was hier los ist, Joie!«, verlangte Jubal wieder.
Sie schüttelte den Kopf und legte warnend einen Finger an die Lippen. »Er hat telepathische Fähigkeiten. Ich will nicht riskieren, dass er unsere Gespräche mithört, bis wir wissen, was hier vorgeht«, formte sie lautlos mit den Lippen und wartete, bis ihre Geschwister nickten, bevor sie weiterging. Joie war bereit, dem Fremden in ihrem Kopf zu vertrauen, doch sie wollte Gabrielle und Jubal nicht gefährden, ohne zu wissen, worauf sie sich hier einließen.
Es gab mehrere Gänge und Kanäle, die von der offenen Galerie wegführten, in die sie sich hinabgelassen hatten. Joie ging langsam von einem zum anderen, um sich zurechtzufinden. Traians Anziehungskraft war so stark, dass ihr, sowie sie an einem bestimmten Eingang stand, augenblicklich klar war, dass er irgendwo in dieser Richtung war. Sie beschränkte sich auf Handzeichen, als sie so leise, wie eine Kletterausrüstung es erlaubte, den Gang hinunterging. Der lange Tunnel führte geradeaus, aber irgendwann bogen zwei andere davon ab, von denen einer hinunter- und der andere hinaufzuführen schien. Der Drang, dem nach unten führenden zu folgen, war sehr stark.
Joie . Traians Stimme klang schwächer. Ich bitte dich ein letztes Mal, von hier zu verschwinden. Du riskierst dein Leben und das deiner Geschwister.
Joie ging jedoch entschlossen weiter, weil sie ihn jetzt ganz deutlich spürte und wusste, dass sie sich auf ihn zubewegte. Sie beschleunigte sogar noch ihre Schritte, obwohl sie sich der zerbrechlichen Eisschichten um sie herum sehr wohl bewusst war. Die Wände wirkten dick, doch sie knirschten und knackten, und laut krachende und polternde Geräusche deuteten auf von der Decke herabstürzende oder aus den Wänden hervorschießende Eisbrocken hin.
Ich bezweifle sehr, dass wir deine Hilfe brauchen
Weitere Kostenlose Bücher