Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
etwa einem Meter, und sieh mal, ob du irgendwelche Unterschiede feststellen kannst.«
Das Eis schien zunächst sehr glatt, fest und dick zu sein. Jubal trat näher an die Wand heran und untersuchte sie genauestens, indem er sich zuerst langsam nach rechts und dann nach links bewegte. Als er nach links ging, wurde das Armband noch viel wärmer und begann zu pochen. Ein Hochgefühl überkam Jubal, das sein Herz wie wild zum Schlagen brachte. Oh ja! Er hatte gefunden, was er suchte! Behutsam strich er mit den Händen über das Eis, und die Wand erwachte zum Leben und erglühte unter den Eisschichten, um Tausende von Symbolen zu offenbaren.
»Wie soll uns das helfen?«, fragte Gabrielle enttäuscht. »Mein Gott, das sind ja irre viele!«
Jubal ging hin und her und ließ den Blick über die Wand gleiten, zuerst von oben nach unten, dann von rechts nach links und schließlich noch einmal von links nach rechts. Das Geheimnis lag direkt vor seinen Augen. Er war sicher, dass er es finden würde. Geduldig hob er sein Handgelenk und hielt das Armband vor den Bereich, den er gerade prüfte. Mehrmals spürte er ein Pulsieren darin, als hätte es etwas erkannt. Jubal wurde immer klarer, dass inmitten all dieser Symbole der Schlüssel lag, den sie brauchten, um die Tür zu öffnen. Er legte den Kopf zur Seite, um die seltsamen Zeichen aus allen Winkeln zu betrachten – und dann verhielt er plötzlich, und ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus.
»Natürlich, Gabrielle! Es war die ganze Zeit da. Siehst du es? Erinnerst du dich an Draco , die Drachen-Konstellation, von der uns Dad erzählte? Wir mussten alle Sternbilder auswendig lernen, aber Draco war sein liebstes. Er pflegte uns Geschichten über den großen Drachen am Himmel zu erzählen. Wie dunkel der Nachthimmel war, als er aus Feuer geboren wurde, ein gewaltiger, tobender Drache mit Feuer im Herzen, Mut in der Seele und grenzenloser Weisheit. Sieh dir das hier mal aus dem richtigen Winkel an! Es ist ein Nachthimmel mit allen Sternbildern, und hier, in der nördlichen Hemisphäre, kannst du den Kopf des Drachen sehen – und seinen Schwanz, der sich zwischen dem Großen und Kleinen Wagen hindurchschlängelt.«
Gabrielle neigte den Kopf. »Du hast recht. Wie hast du das nur zwischen all den anderen Graffiti an der Wand entdeckt?«
Jubal grinste sie an und berührte zuversichtlich den ersten Punkt der Draco -Konstellation. Von dem mächtigen keilförmigen Kopf des Drachen ließ er die Finger über den Körper zu dem langen Schwanz hinunterwandern. Bei jeder Berührung entlang des Drachenrückens flimmerte das Eis, und eine Welle der Bewegung ging hindurch, bis es zu zerfließen schien und fast so transparent wurde, dass die Geschwister durch die Wand zur anderen Seite hinüberblicken und die Berglandschaft erkennen konnten.
Gabrielle, die es kaum erwarten konnte, die Höhle zu verlassen, trat einen Schritt auf die Wand zu.
Halt, Gabby! Beweg dich nicht und sei ganz still! , warnte Jubal sie auf telepathischem Weg und hob eine Hand, damit sie sehen konnte, dass das Armband kein graviertes Metall mehr war, sondern die gebogenen Klingen sich wieder geöffnet hatten wie die Blüten einer Blume und sich zu etwas entfalteten, das sehr tödlich und kampfbereit aussah. Hier stimmt was nicht.
Gabrielle nahm ihren Eispickel in die Hand und nickte. Jubal war froh, dass sie nicht in Panik geriet. Gabrielle war vielleicht nicht so tough wie Joie, doch man konnte sich immer auf sie verlassen.
Ich rieche den gleichen widerlichen Geruch, der auch von diesen anderen Vampiren ausging , gab ihm Gabrielle zu verstehen. Es muss einer in der Nähe sein, und deshalb hat sich dein Armband in eine Waffe verwandelt.
Das leuchtete beiden ein. Wenn Magier sich vor Vampiren schützen mussten, selbst Hunderte von Jahren zuvor, mussten sie Waffen gehabt haben, um zu kämpfen.
Es wäre besser, wenn eine Bedienungsanleitung dabei gewesen wäre , bemerkte Jubal.
Gabrielle schenkte ihm ein schwaches Lächeln, und beide schalteten ihre Stirnlampen aus, als Jubal seine Hand über den letzten Stern der Drachenkonstellation legte. Die Waffe pulsierte und gab ein schwaches Leuchten ab, sodass Jubal und Gabrielle die wellenartige Bewegung sehen konnten, die durch die Wand ging, als sie sich an einer Stelle zu einer Art Bogengang öffnete, der ihnen die Flucht ermöglichte. Das Eis glitzerte und funkelte um diesen wunderschönen Ausgang – oder Eingang. Und da der Instinkt Jubal
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