Die Sehnsucht der Nacht: Erzählungen (German Edition)
spürte die Reaktion der Waffe – ein Erschauern durchlief sie, und sie legte sich noch fester um sein Handgelenk. »Das glaube ich nicht, Gabby. Im Gegenteil. Ich bin mir langsam sogar ziemlich sicher, dass dieses Ding für jemanden aus unserer Familie gefertigt wurde. Es fühlt sich …« Er unterbrach sich, um nach dem richtigen Wort zu suchen. »Es fühlt sich gut und richtig an.«
»Das ist unmöglich, Jubal, und das weißt du. Mom kommt aus Südamerika, und Dad …« Sie verstummte.
Jubal nickte. »Genau. Dad. Ich bin ihm sehr ähnlich, und er spricht nie über seine Seite der Familie. Niemals. Mom ist eine dominante Persönlichkeit, während er sehr ruhig ist. Doch wir wissen beide, dass wir alle drei eine überdurchschnittliche Intelligenz besitzen und sie von unserem Vater haben. Mom ist diejenige mit den sportlichen Fähigkeiten, und auch die haben wir mitbekommen. Aber stell dir doch nur mal vor, dass in Dads Familie Magier vorkamen?«
Gabrielle wich zurück. »Die sind böse.«
»Eine ganze Spezies kann nicht durch und durch böse sein, Gabby. Auf jeden Fall müssen wir einen Weg ins Freie finden; und was immer dieses Ding auch sein mag, für mich fühlt es sich nicht böse an, und ich möchte es behalten.« Da war etwas an dem Armreif – eine zunehmende Anhänglichkeit, ja fast schon Zuneigung –, die er sich nicht erklären konnte. Das Ganze machte keinen Sinn, doch er war sicher, das Rätsel lösen zu können, sobald sie das Labyrinth der Höhlen hinter sich gelassen hatten.
Jubal hasste es, Gabrielle vor Kälte zittern zu sehen, während ihm angenehm warm war. Er wandte sich wieder der Treppe zu. Seine Stirnlampe ließ die Kurven in der steilen Treppe zutage treten, die schon beinahe wie eine Wendeltreppe war und etwa neun Meter oder mehr noch in die Tiefe führte, bevor sie sich wieder nach oben wand. Jubal beherrschte den Impuls, sich zu beeilen, und ging in gleichmäßigem Tempo weiter. Dabei suchte er hin und wieder die geistige Verbindung zu Traian und Joie, um sich zu vergewissern, dass sie noch am Leben waren. Er konnte zwar keinen von ihnen auf telepathischem Weg erreichen, aber er wusste zumindest, dass sie noch lebten.
Gabrielle sagte die ganze Zeit kein Wort, doch sie folgte ihm, auch wenn sie hin und wieder stolperte und sich an seinen Schultern festhielt. Jubal wusste, dass er sie aus den Höhlen heraus- und den Berg hinunterbringen musste – oder zumindest zu den Zelten, wo sie sich aufwärmen könnte. Es kam ihm wie ein halbes Leben vor auf dieser eisigen Treppe, mit nichts als ihren Stirnlampen, um den Weg zu erhellen.
»Ich glaube, wir sind nahe dran, Gabby«, sagte er ermutigend.
Der Lichtstrahl seiner Lampe fiel auf das Ende der eisigen Treppe. Dahinter folgte ein schmaler Streifen Eis, der wie eine Sackgasse vor einer dicken Eiswand endete. Gabrielle setzte sich auf die letzte Stufe und schlug die Hände vors Gesicht, als sie das sah.
»Wir sitzen fest. Ich habe die Wände untersucht, als wir herunterkamen. Sie sind aus massivem Eis, Jubal.«
»Es muss einen Ausweg geben«, erwiderte er. »Gib mir eine Minute Zeit. Bei den Ein- und Ausgängen scheint es irgendwie stets um Muster und Mathematik zu gehen. Und du weißt ja, wie mein Verstand funktioniert. Ich sehe praktisch alles in Zahlen und Mustern.«
»Während ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann«, gestand sie.
Jubal wandte sich ihr zu. Sie brauchte dringend Wärme. Ihr Körper schützte ihr Herz und ihre Lunge, doch bald würde sie nicht einmal mehr gehen können, wenn er keine Möglichkeit fand, sie zu wärmen. Er senkte den Blick auf das breite Metallarmband an seinem Handgelenk. Wenn er es abnehmen und ihr anlegen könnte … Das Band zog sich zusammen, als könnte es seine Gedanken lesen. Jubal legte seiner Schwester die Hände auf die Schultern und begann ihre Arme zu massieren.
Dabei rieb sich das Armband an ihrem Ärmel, und Jubal konnte spüren, wie die Wärme des Metalls ihren Anorak durchdrang. Sofort drückte er das Band an ihren Nacken, und als er merkte, dass sie aufhörte zu zittern, nahm er ihre Hände und legte sie über das seltsame Metall. »Besser?«, fragte er.
Gabrielle nickte. »Mir ist schon viel wärmer, danke.« Sie berührte das eingeätzte Wappen und strich mit den Fingerspitzen den sonderbaren Schriftzug nach. »Du hast recht. Ich habe diese Zeichen in Dads Arbeitszimmer gesehen.«
Jubal untersuchte wieder die Wand vor ihnen. »Beleuchte die Fläche in Abschnitten von
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