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Die Sehnsucht der Pianistin

Die Sehnsucht der Pianistin

Titel: Die Sehnsucht der Pianistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Nachtigall Nora Roberts
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hatte.
    Sie strich sich das nasse Haar aus der Stirn und ging ins Haus. Es war leer und still, aber die Idee, ins Bett zu gehen, hatte sie längst aufgegeben. Wenn sie mit einer angehenden Klaviervirtuosin Tonleitern üben sollte, dann musste sie sich vorbereiten. Das würde sie zumindest ablenken.
    Im Musikzimmer ging sie zu dem hübschen neuen Schrank. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Mutter ein paar ihrer alten Übungsbücher aufgehoben hatte. Die erste Schublade enthielt Notenhefte, die für das erste Jahr zu schwer waren. Aber ihr selbst zuckte es in den Fingern, als sie die Hefte durchblätterte.
    In der untersten Schublade fand sie, was sie suchte. Da lagen sie, mit Eselsohren verziert, aber sauber gebündelt. Alle ihre Übungsbücher. In einem Anflug von Sentimentalität setzte sie sich mit gekreuzten Beinen hin und begann darin zu stöbern.
    Wie gut sie sich an ihre ersten Klavierstunden erinnerte! Fingerübungen, Tonleitern und dann die ersten einfachen Melodien. Sie fühlte wieder diese überwältigende Freude, die sie damals empfunden hatte, als sie begriff, dass sie die Macht hatte, diese gedruckten Noten in Musik zu verwandeln.
    Seit damals waren mehr als zwanzig Jahre vergangen. Ihr Vater war ihr Lehrer gewesen, und obwohl er sehr streng war, hatte er in ihr eine willige Schülerin gefunden. Wie stolz sie gewesen war, als er sie zum ersten Mal gelobt hatte! Diese seltenen Worte des Lobes hatten sie immer wieder angespornt.
    Aufseufzend kramte sie weiter in der Schublade. Wenn die kleine Annie schon ein Jahr lang Klavier spielte, musste sie über das Anfängerbuch bereits hinaus sein. Plötzlich stieß Vanessa auf das dicke Sammelalbum, das ihre Mutter vor vielen Jahren begonnen hatte. Lächelnd schlug sie es auf.
    Da waren Fotos von ihr am Klavier. Sie trug Rattenschwänze und weiße Söckchen. Sie blätterte weiter und fand Fotos von ihrem ersten öffentlichen Vortrag und ihre ersten Zeugnisse. Hier fand sie auch die Urkunden, die früher über ihrem Bett gehangen hatten, die Zeitungsausschnitte, als sie ihren ersten regionalen Wettbewerb gewonnen hatte, und den Bericht von ihrem ersten überregionalen Wettkampf.
    Wie aufgeregt sie gewesen war. Ihre Hände waren schweißnass gewesen, in ihren Ohren hatte es gedröhnt, und ihr Magen war ein dicker Knoten gewesen. Sie hatte ihren Vater gebeten, sich von der Teilnahme zurückziehen zu dürfen, aber er hatte nicht auf sie gehört. Und dann hatte sie auch gewonnen.
    Zu ihrer Überraschung gab es noch weitere Zeitungsausschnitte. Hier ein Artikel aus der „London Times“, als sie schon ein ganzes Jahr von Hyattown fort war. Und dort ein Foto von ihr in Fort Worth, nachdem sie den „Van-Clyburn“-Preis gewonnen hatte.
    Es gab Dutzende, nein, Hunderte von Fotos, Zeitungsausschnitten und Klatschspalten, von denen sie einige nicht einmal selbst kannte. Es schien, als sei hier alles sorgfältig gesammelt worden, was je über sie gedruckt worden war.
    Erst die Briefe und dann dieses Album. Was sollte sie davon halten? Die Mutter, von der sie glaubte, dass sie sie vergessen hatte, hatte ihr regelmäßig geschrieben, obwohl sie keine Antwort bekam. Sie hatte jeden Schritt ihrer Karriere verfolgt, obwohl sie keinen Anteil daran haben durfte. Und schließlich hatte sie ihrer Tochter auch noch ihr Haus geöffnet, ohne eine Frage zu stellen.
    Das alles erklärte jedoch immer noch nicht, warum Loretta sie so einfach hatte gehen lassen.
    „Ich hatte keine Wahl.“
    Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter. Was hatte sie damit gemeint? Dass die Liebesaffäre ihre Ehe zerstört hatte, war nicht weiter verwunderlich. So etwas hätte ihr Vater nie geduldet. Aber warum hatte sie auch das Verhältnis zu ihrer Tochter zerstört?
    Sie musste es wissen, und sie würde es erfahren. Vanessa erhob sich und ließ die Bücher und Hefte auf dem Teppich liegen. Sie würde es noch heute erfahren.
    Der Regen hatte aufgehört, und blasses Sonnenlicht kämpfte sich durch die Wolken. Das Zwitschern der Vögel wetteiferte mit den Geräuschen eines Zeichentrickfilms, die aus dem Fenster eines Nachbarhauses drangen. Obwohl der Laden ihrer Mutter nur ein paar Häuserblocks entfernt lag, fuhr Vanessa mit dem Wagen hin. Normalerweise hätte sie den Spaziergang genossen, aber sie wollte nicht von irgendwelchen Bekannten aufgehalten werden. Das alte zweistöckige Haus lag am Stadtrand. Das Schild mit der Aufschrift „Lorettas Stübchen“ bildete einen anmutigen Bogen über der

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