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Die Sehnsucht der Pianistin

Die Sehnsucht der Pianistin

Titel: Die Sehnsucht der Pianistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Nachtigall Nora Roberts
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drückte. Mit der anderen Hand umklammerte sie einen riesigen schwarzen Regenschirm. Lächelnd ging Vanessa ihr entgegen.
    „Mrs. Driscoll! Freut mich wirklich sehr, Sie wiederzusehen.“
    Die alte Dame musterte sie mit ihren scharfen kleinen Augen. „Wie ich hörte, bist du wieder da, Vanessa. Du bist viel zu dünn.“
    Lachend beugte sich Vanessa vor, um die faltige Wange zu küssen. Ihre alte Lehrerin roch noch immer nach Lavendel. „Sie sehen großartig aus.“
    „Pass lieber auf dich selbst auf.“ Sie schnüffelte. „Der vorwitzige Brady will mir einreden, dass ich einen Stock brauche. Er hält sich für einen Arzt. Hier, halt mal.“ Resolut drückte sie Vanessa den Regenschirm in die Hand. Sie öffnete ihre Tasche, um die Post hineinzustopfen, wobei sie Mühe hatte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Bei dem Regen schmerzten ihre Knochen noch mehr, aber sie war ihr Leben lang gern im Regen spazieren gegangen. „Wurde auch Zeit, dass du wieder nach Hause kommst. Bleibst du hier?“
    „Nun, ich habe noch nicht …“
    „Und dass du dich ein bisschen um deine Mutter kümmerst“, fiel sie Vanessa herrisch ins Wort. „Ich habe dich spielen gehört, als ich gestern vorbeiging, aber ich hatte keine Zeit, hereinzukommen.“
    Vanessa kämpfte mit dem schweren Schirm und mit ihren guten Manieren. „Möchten Sie hereinkommen und eine Tasse Tee mit mir trinken?“
    „Keine Zeit. Du spielst immer noch wirklich hübsch, Vanessa.“
    „Danke.“
    Als Mrs. Driscoll ihren Schirm nahm, hoffte Vanessa, sie hätte es überstanden. Aber sie hätte es besser wissen müssen. „Ich habe eine Großnichte. Sie nimmt Klavierstunden in Hagerstown. Ist sehr schwierig für ihre Ma, sie immer so weit fahren zu müssen. Da du jetzt wieder da bist, könntest du eigentlich die Stunden übernehmen.“
    „Oh, aber ich …“
    „Sie nimmt bereits fast ein Jahr Klavierstunden, einmal die Woche. Zu Weihnachten hat sie ‘Jingle Bells’ schon richtig gut gespielt. Auch ein paar andere Lieder kann sie schon.“
    „Das freut mich“, brachte Vanessa hervor. Sie war inzwischen ganz nass und der Verzweiflung nahe. „Da sie bereits einen Klavierlehrer hat, möchte ich mich nicht einmischen.“
    „Sie wohnt gar nicht weit von hier und könnte zu Fuß herkommen. Dann hätte ihre Ma etwas mehr Zeit. Lucy – das ist meine Nichte, die Tochter meines jüngeren Bruders – erwartet nächsten Monat ihr Drittes. Sie hoffen, dass es ein Junge wird, wo sie doch schon zwei Mädchen haben. Scheint in dieser Familie mehr Mädchen zu geben.“
    „Aha …“
    „Ist nicht leicht für sie, immer nach Hagerstown zu fahren.“
    „Das kann ich mir denken, aber …“
    „Du wirst doch einmal in der Woche eine Stunde Zeit haben, oder?“
    Verzweifelt fuhr sich Vanessa durch das nasse Haar. „Wahrscheinlich, allerdings …“
    Violet Driscoll wusste genau, wann sie Oberwasser hatte. „Wie wäre es mit heute? Ihr Schulbus kommt kurz nach halb vier. Sie könnte um vier hier sein.“
    Vanessa war entschlossen, fest zu bleiben. „Mrs. Driscoll, ich würde Ihnen riesig gern aushelfen, aber ich habe noch nie im Leben eine einzige Klavierstunde gegeben.“
    Mrs. Driscoll blinzelte überrascht. „Du weißt doch, wie man auf dem Ding spielt, oder?“
    „Ja, schon, aber …“
    „Dann solltest du auch in der Lage sein, es anderen zu zeigen. Es sei denn, sie sind wie Dory – das ist meine älteste Tochter. Habe ihr nie beibringen können, wie man häkelt. Hat zwei linke Hände. Annie hat gute Hände. Das ist meine Großnichte. Und ganz schön clever ist sie auch. Du wirst keine Mühe mit ihr haben.“
    „Das glaube ich gern. Es ist nur, dass …“
    „Du kriegst zehn Dollar pro Stunde.“ Ein schlaues Lächeln glitt über Mrs. Driscolls faltiges Gesicht, während Vanessa sich das Hirn zermarterte, was sie noch für eine Entschuldigung vorbringen könnte. „Du warst immer fix in der Schule, Vanessa. Fix und ordentlich. Hast mir nie Sorgen gemacht wie Brady, dieser Nichtsnutz. Hab ihn trotzdem gemocht. Ich sorge dafür, dass Annie um vier Uhr hier ist.“
    Sie humpelte unter ihrem riesigen Regenschirm davon und ließ Vanessa mit dem Gefühl zurück, von einer antiken, aber sehr stabilen Dampfwalze überrollt worden zu sein.
    Klavierstunden, dachte sie und stöhnte innerlich auf. Wie war das nur passiert? Sie sah den Regenschirm um die Ecke verschwinden. Es war genauso passiert wie damals, als sie „freiwillig“ die Tafel nach der Stunde abgewischt

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