Die Sehnsucht der Smaragdlilie
schwarz-goldenes Samtkleid. Aber als sie jetzt einen Kiesweg entlangeilte, spürte sie den beißenden Wind nicht.
Heute Morgen waren nicht viele Höflinge unterwegs. Die wenigen, die in den Gärten waren, schlenderten leise miteinander flüsternd umher. Sie sahen Marguerite neugierig nach, wenn sie an ihnen vorüberging, doch keiner hielt sie auf. Marguerite fürchtete, dass sie im Moment zu keiner höflichen Konversation fähig war.
Sie wusste kaum, wohin sie ihre Schritte lenkte. Sie lief einfach nur immer weiter in der Hoffnung, sich dadurch dieser seltsamen Rastlosigkeit zu entledigen. Sie umrundete die Ecke einer großen, zu einer Skulptur geschnittenen Hecke und stellte fest, dass sie beim Theater gelandet war.
Die Türen standen halb offen und ließen die Winterluft hinein. Wie im Traum oder wie unter einem Zauber stehend, bewegte Marguerite sich auf sie zu. Sie wollte nicht dort hineingehen. Was, wenn Nikolai dort wartete, sie mit seinem Seil anlockte, mit einer Freiheit, die nicht die ihre war? Doch anstatt sich umzuwenden und zurück in die Gärten zu gehen, fand sie sich im Innern des Gebäudes wieder.
Das prächtige Theater mit seinem kunstvoll gemalten Himmel und seinen schimmernden Wandbehängen war still und unbeleuchtet. Das einzige Geräusch war ein entferntes, schwaches Hämmern, da Sir Henrys Gehilfen eine neue Kulisse bauten. Es war kalt, und es roch nach frischer Farbe, Sägemehl, Schweiß und steifem Atlas. Wie an allen Orten nächtlichen Vergnügens herrschte in dem Theater am Tag eine verlorene, schäbige Atmosphäre, eine tiefe Einsamkeit, die zu Marguerites seltsamer Stimmung passte.
Leise schloss Marguerite die Türen hinter sich und schlich sich weiter ins Innere. Bald würde der Raum hier ein Schloss, eine Wiese, der Olymp oder eine himmlische Wolke sein. Ihr war er lieber so, wie er jetzt war: ruhig und leer, noch alle Möglichkeiten vor sich habend.
Auf Zehenspitzen betrat sie den kleinen Raum, in dem Nikolai sonst seine Kunststücke übte. Das Seil lag aufgerollt in der Ecke, an den Wänden waren einige Reisekisten aufgestapelt. Hatte sie nicht gerade beschlossen, sich von Nikolai fernzuhalten? Hatte sie nicht entschieden, dass er eine Ablenkung darstellte, die sie nicht brauchen konnte? Und jetzt stand sie hier.
Er war nicht da, doch sie hätte schwören können, dass sein Geruch in der Luft lag, dieser saubere Duft nach frischen Kräutern. Sein ureigenes Wesen.
Marguerite öffnete eine der Kisten, sah hinein und entdeckte dünne, glänzende Rapiere, die in ein Stück braunen Samt eingewickelt waren. Natürlich waren es Bühnenwaffen, nicht so scharf und tödlich wie ihr eigener Degen und die Dolche. Doch richtig geführt, wären auch sie gefährlich genug.
Sie erinnerte sich an einen Nachmittag auf der Piazza San Marco, als sie Nikolai und seiner Truppe dabei zugeschaut hatte, wie sie für eine angetrunkene Gruppe von Männern spielten. Es war eine Szene gewesen, in der eine abenteuerlustige Ehefrau und ihr Liebhaber von dem tölpelhaften Ehemann überrascht worden waren. Nikolai spielte natürlich den Liebhaber, und selbst mit Maske, gehüllt in eng sitzende, vielfarbige bunte Seide strahlte er Sinnlichkeit und eine obszöne Komik aus. All die raffinierten Ränke der Frau und des Liebhabers konnten den wütenden Ehemann nicht verjagen, und zu guter Letzt musste Nikolai mit ihm kämpfen. Vielleicht hatte er genau mit diesen Klingen hier pariert und getäuscht, zugestochen und sich gebrüstet und hatte sich Purzelbaum schlagend außer Reichweite des immer ungeschickter kämpfenden Ehemanns gebracht.
Zum Schluss war der übellaunige Ehemann besiegt, und sein schwarzes Gewand hing in Fetzen, während Arlecchino sich mit seiner Frau auf und davon machte. Marguerite war sich sicher, dass die meisten der hier am englischen Hof weilenden Damen mit Freuden das Schicksal der Frau geteilt hätten.
Sie zog eine der Klingen hervor und wog den vergoldeten Griff in der Hand. Die dünne Schneide besaß immer noch etwas von ihrer Schärfe, das Heft lag leicht und griffig in ihrer Hand und glänzte im staubigen Licht. Mit hoch erhobenem rechten Arm, Handfläche nach außen gedreht, hob sie die Klinge zur prima , der ersten Parade oder Verteidigungsposition. Mit einer gleitenden Bewegung ging sie in die seconda , die zweite Parade, über: Handfläche nach unten, der Arm in Schulterhöhe. Dann ließ sie die terza folgen: Arm in Taillenhöhe, Handfläche zeigt nach links.
Dann hob sie wieder
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