Die Sehnsucht der Smaragdlilie
Ecke war der Klang einer Laute zu hören. Jemand übte für eine Darbietung, derer es so viele gab am englischen Hof. Es war ein trauriges Lied, einsam und klagend inmitten all dieser künstlichen Pracht. Marguerite blieb stehen, um zu lauschen. In ihrem Innersten verspürte sie eine schmerzende Leere.
Als die Musik verklang, ging sie auf Zehenspitzen zur Tür von Nikolais Kammer und spähte hinein. Umgeben von Papierstößen saß er in der Ecke an einem kleinen Tisch. Mit kratzender Feder schrieb er wahrscheinlich gerade die letzten Aufzeichnungen über die heutige Probe. Sie sah sein scharf geschnittenes, elegantes Profil, umrahmt von seinem hellen Haar, das er ungeduldig über die Schulter warf. Er runzelte leicht die Stirn und seufzte leise, als ob auch er die melancholische Melodie der Laute gehört und die leise, kalte Berührung der Einsamkeit verspürt hätte.
Mit einem Mal überkam Marguerite das Bedürfnis zu weinen. So lange hatte sie nicht mehr geweint. Tränen nutzten einem nichts und änderten auch nichts. Das Leben war, wie es war. Die Welt war von selbstsüchtigen und grausamen Menschen bevölkert, und nur, wenn man genauso selbstsüchtig und grausam war, konnte man überleben. Tränen bedeuteten Schwäche. Doch jetzt nahm das Gefühl dieser kalten Leere in ihr so schmerzhaft überhand, dass es ihr das Herz abdrückte und sie kaum atmen konnte. Ihre Augen brannten, und die Kehle wurde ihr eng wegen des seit Jahren unterdrückten Kummers.
Sie presste die Hand auf ihren Leib und wandte sich ab. Sie wollte nicht, dass Nikolai sie so sah. Sie wollte niemandem zeigen, was sie fühlte. Doch er bemerkte das Rascheln ihrer Röcke und blickte auf, als sie sich gerade davonschleichen wollte.
Die gerunzelte Stirn glättete sich, und er lächelte ihr zur Begrüßung entgegen. „Marguerite!“, rief er. „Wie ich sehe, bist du gekommen, um mich von dieser ermüdenden Arbeit zu erlösen.“
Marguerite setzte ein Lächeln auf und hoffte nur, dass der feuchte Glanz in ihren Augen sie nicht verriet, als sie sich jetzt zu ihm umdrehte. „Ist es so ermüdend, mit einem Dutzend reizender Damen zu arbeiten? Die meisten Männer würden es als Geschenk des Himmels betrachten.“
„Die meisten Männer hatten auch noch nicht das zweifelhafte Vergnügen, in eine wilde Herde von Hofdamen Ruhe und Ordnung bringen zu müssen“, meinte er und streckte die Hand nach ihr aus.
Marguerite ergriff sie. Seine Finger schlossen sich fest um die ihren. Er zog Marguerite näher. Als sie seine Haut fühlte, so warm und fest und lebendig , schmolz etwas von dem Eis, das ihr Herz umgab, schmolz dahin, ein winziges bisschen nach dem anderen.
Sie sank auf seinen Schoß, und ihr Spazierstock fiel klappernd zu Boden, als sie die Arme um Nikolais Nacken schlang und das Gesicht in der Mulde seiner Schulter barg. Wie wunderschön er war, ihr wilder Moskowiter, mit seinem sauberen, frischen Duft und dem engelsgleichen Haar! Wenn sie ihm so wie jetzt nahe war, verschwand die grausame Welt, und es gab nur noch sie beide, nur noch ihr kleines Königreich, in dem Nationen und Politik und Namen wie „Smaragdlilie“ keine Bedeutung hatten.
Doch diese Momente waren so flüchtig. Und bald genug würden sie gänzlich der Vergangenheit angehören. Marguerite musste sie festhalten, solange sie konnte, sie im geheimsten Winkel ihres Herzens bewahren, um sich an kommenden kalten Wintertagen an ihnen zu wärmen.
„Es ist wahr, wir sind alle keine richtigen Schauspieler“, murmelte sie. „Wir wollen nur die besten, größten Rollen für uns selbst. Lady Penelope möchte die besten Verehrer anlocken. Wir sind nicht wie deine venezianische Geliebte.“
Nikolai lachte. „Was weißt du über meine Geliebte?“
„Ich sah sie doch mit dir zusammen. Auf der Piazza San Marco. Sie war sehr hübsch.“
„Woher weißt du das, obwohl sie doch eine Maske trug?“
„Nun, auf jeden Fall hatte sie einen hübschen Busen. Jeder konnte das erkennen. Ihr Mieder war so eng.“
Er lachte noch mehr und schloss sie noch fester in die Arme, sodass sie das warme, tiefe Echo seines Lachens in ihrem eigenen Herzen fühlen konnte. „Es ist wahr, einst gab es eine kleine Romanze zwischen Mascha und mir. Aber die ist vorbei.“
Marguerite lächelte über die plötzliche Befriedigung, die sie bei seinen Worten empfand. „Dann lag ihr wohl nicht viel daran, die Frau eines Bauern zu werden.“
„Im Gegenteil. Sie heiratete den Sohn eines Bauern, den sie dort in
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