Die Sehnsucht der Smaragdlilie
leicht mit seiner Hand.
„Und jetzt mache einen Schritt“, forderte er sie liebevoll auf.
„Einen Schritt?“
„Ich weiß, dass du es kannst. Denke daran: wie eine Tänzerin. Halte die Balance, und hebe den hinteren Fuß. Bewege dich behutsam und nicht zu schnell, und setze den Fuß nach vorne.“
Marguerite nickte und war wild entschlossen, es genauso zu machen. Während sie die freie Hand seitlich ausstreckte, hob sie langsam, ganz langsam ihren hinteren Fuß ein wenig vom Seil. Sie erinnerte sich daran, wie es war, über einen Tanzboden zu gleiten, und setzte vorsichtig den Fuß mitten aufs Seil.
„Bravo!“, rief Nikolai mit Bewunderung in der Stimme. „Sehr gut.“
Durch seinen Zuspruch ermutigt, machte sie noch einen Schritt und noch einen. Die kalte Leere in ihrem Innern füllte sich plötzlich mit Stolz und Erregung. Sie konnte es! Sie tat es. Sie gewann an Sicherheit, bis dieses goldene Glühen sie durchflutete, das sie an Nikolai immer wahrgenommen hatte.
Er ließ ihre Hand los, bis sich nur noch ihre Fingerspitzen berührten. Sie machte noch einen Schritt und noch einen und noch einen. Ihre Bewegungen wurden schneller und lockerer. Sie lachte und war voll Entzücken wie seit ihrer Kindheit nicht mehr, als sie noch unbeschwert zwischen den duftenden Sommerreben herumgetollt war. Das war herrlich! Bestimmt konnte sie wirklich fliegen.
Am Ende des Seils fasste Nikolai sie wieder um die Taille, hob sie vom Seil und schwang sie jubelnd umher. Glücklich warf sie den Kopf in den Nacken und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen.
„Marguerite, dorogaja , du hast es geschafft!“, rief Nikolai. „Schon bei deinem ersten Versuch bist du über das ganze Seil gegangen.“
Als er sie auf die Füße stellte, lehnte sie sich gegen seine Brust und lachte und weinte gleichzeitig. Wie kleine feurige Küsse durchströmte sie reine Lebenskraft. „Nur, weil du mich oben gehalten hast, Nikolai.“
„Oh, Marguerite.“ Er drückte sie an sich. „Du hast dich selbst auf dem Seil gehalten. Du besitzt deine eigenen Flügel, und jetzt hast du sie entdeckt.“
Meine eigenen Flügel . Vielleicht besaß sie sie tatsächlich, und sie würde damit noch irgendetwas anderes in ihrem Leben erreichen können. Sie verspürte eine aufmunternde Hoffnung auf etwas, das sie nicht benennen konnte. Das hatte sie Nikolai zu verdanken. Er gab ihr diese Hoffnung, diese Flügel.
Aber war das nicht alles schon viel, viel zu spät?
20. KAPITEL
Was sagt Ihr, Mylord mit dem fetten Gesicht?“
König Henry brüllte vor Lachen über den Scherz seines Lieblingsnarren Will Somers. Doch das Lächeln der Höflinge um ihn herum war deutlich gezwungener. In ihren gesetzten, unbeweglichen Mienen zeigte sich die Furcht, sie könnten als Nächste den beißenden Witz des Narren zu spüren bekommen.
Marguerite war froh, dass sie in der Festhalle weit entfernt vom Podest des Königs saß. So konnte sie dem Schauspiel zusehen, ohne daran teilzunehmen. Sie hatte momentan keinen Sinn für derlei Zerstreuungen. Nach ihrem Abenteuer auf dem Seil war sie nur noch beschäftigt damit, über ihr Leben nachzudenken.
In Wahrheit war ihr ganzes Leben ein einziger Seiltanz gewesen. Ein vorsichtiger Schritt nach dem anderen, immer ihre Umgebung scharf beobachtend, auf jeden Hinweis drohender Gefahr achtend.
Aber heute war sie nicht gestürzt. Und jetzt fiel es ihr schwer, wieder zu ihren Aufgaben zurückzukehren. Sie hatte sich durch dieses Erlebnis verändert.
Beim Bankett heute Abend war Nikolai nirgendwo zu sehen. Doña Elena und ihr Gatte saßen auf ihren gewohnten Plätzen neben dem Gesandten Mendoza, umgeben von ihrer aufmerksamen Gefolgschaft. Doch Nikolai war nicht unter ihnen. Noch war er einer der Schauspieler, die inmitten der Gäste jonglierten und Späße machten. Ohne ihn kam Marguerite der Raum deutlich dunkler vor.
Pater Pierre, der schweigend und wachsam an Marguerites Seite saß, legte eine Süßigkeit auf den Teller vor ihr.
„ Merci “, murmelte sie und knabberte vorsichtig an dem in Honig getauchten Rand des Konfekts. Seit dem Pfeil und der seltsamen Nachricht war sie ihrer Umgebung gegenüber äußerst misstrauisch geworden. Selbst Männern der Kirche konnte man nicht trauen.
„Habt Ihr Euch von Eurem unglücklichen Unfall erholt, Madame?“, fragte er.
„Ja, danke. Es wird sogar kaum eine Narbe zurückbleiben.“
„Man sagt, dieser Russe in der Gruppe der spanischen Abgesandten war Euer Arzt.“
Marguerite
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