Die Sehnsucht der Smaragdlilie
Nikolai kannte sie. Und er hatte direkt vor ihr gestanden, als der Pfeil aus den Schatten geschossen kam.
Hätte er immer noch Grund, sie zu töten? War alles nur ein Spiel, eines, dessen Regeln sie aus Schwäche vergessen hatte?
Ab jetzt musste sie besonders wachsam sein. Ihre Mission hier in England war weit davon entfernt, beendet zu sein.
„Ist es nicht so, Señorita Dumas?“, fragte Señorita Alva.
„Wie bitte?“, antwortete Marguerite. „Verzeiht mir, Madame, ich war einen Augenblick lang abgelenkt.“
Señorita Alva kicherte. „Zweifellos abgelenkt durch Gedanken an Señor Ostrowski! Sieht er nicht schrecklich gut aus? Ich wünschte, ich würde krank, damit er mich pflegen könnte.“
„Maria-Carolina!“, schalt Doña Elena. „Señorita Dumas wurde ernsthaft verletzt. Sicher fühlt sie sich im Moment nicht dazu in der Lage, das gute Aussehen irgendeines Mannes zu bewundern.“
Marguerite lachte. „Eine Dame müsste bewusstlos sein, um das gute Aussehen Monsieur Ostrowskis nicht zu bemerken! Seine Augen sind ungeheuer blau.“
„Und doch fürchte ich, verspürt er nicht den Wunsch, sich eine Frau zu nehmen.“ Señorita Alva seufzte. „Es ist zu traurig.“
„Ich bin überzeugt, es gibt viele andere attraktive Interessenten, besonders für eine so hübsche junge Dame, wie Ihr es seid“, sagte Marguerite aufmunternd. Schon zuvor im Gespräch mit Lady Penelope hatte Marguerite entdecken können, dass im Klatsch der Damen sich oft nützliche kleine Informationen verbargen. „Im Gefolge des Gesandten Mendoza befinden sich viele hübsche und ehrgeizige junge Männer. Und Doña Elena als Ihre Gönnerin …“
Señorita Alva verzog das Gesicht, wandte sich aber dabei ab, damit Doña Elena sie nicht sehen konnte. Wie sehr ähnelte sie doch einer scheueren Variante von Lady Penelope! Sicher waren alle jungen Damen dieser Welt gleich. „Sie sind alle so furchtbar streng! Selbst die jungen Männer. Die ganze Zeit nichts als Gebet und Geschäft.“
„Frömmigkeit und Hingabe an die Interessen Spaniens haben wohl kaum etwas mit Strenge zu tun, meine Liebe“, sagte Doña Elena. „Schaut Euch meinen eigenen Gatten an! Und hat der Conde de Garcia-Baca Euch nicht kürzlich große Aufmerksamkeit geschenkt?“
Marguerite lauschte ihnen mit halbem Ohr, wie sie über verschiedene Herren diskutierten, und erfuhr dabei ein oder zwei aufschlussreiche Neuigkeiten über einige der Männer. Während der ganzen Zeit flog ihre Nadel über den Stoff, und ihre Gedanken drehten sich um ein Thema.
Wer hatte den Pfeil auf sie abgeschossen und warum?
19. KAPITEL
Das Theater schien sich in ein Vogelhaus verwandelt zu haben, erfüllt von einer Schar flatternder, zwitschernder Vögel im schimmernden seidenen Federkleid. Während sie darauf warteten zu erfahren, welche Rollen sie spielen würden, hatten sich etliche Hofdamen in einer Ecke des weiten Raumes versammelt und begutachteten Bahnen schwarz-weißen Atlasstoffes, die für Kostüme bestimmt waren. Anne Boleyn kauerte verspielt auf einem Thron aus Holz, kicherte und lästerte mit ihren Freundinnen über weniger gut gekleidete Damen.
Nikolais Blick schweifte prüfend über die plappernde Schar. Welche Dame war am besten für welche Rolle geeignet? Aber immer wieder kehrte seine Aufmerksamkeit zu einer bestimmten Dame zurück – zu Marguerite.
Mit Lady Penelope und einigen anderen englischen Damen stand sie ein wenig abseits an der Seite und stützte sich auf einen geschnitzten Gehstock. Er war das einzige äußerliche Zeichen ihrer Verletzung. Sie war dunkel gekleidet, in braunem Samt mit einem hohen flämischen Kragen. Das Haar hatte sie zurückgekämmt und mit einer Kappe aus Perlen bedeckt. Ruhig und gedämpft unterhielt sie sich mit den anderen. Doch wie immer schien das ganze Licht des Raumes sie mit einem himmlischen Silberglanz zu umgeben.
Heiter lächelte sie Lady Penelope zu und wirkte selbstbeherrscht und gelassen. Ganz und gar nicht wie die Frau, die er in den Armen gehalten hatte, als sie ihm von dem Unfall in ihrer Jugend erzählte. Dem Unfall, der ihr Leben veränderte und sie vom üblichen Lebensweg einer Frau abbrachte. Da war ihr ganzer Körper starr gewesen, verkrampft und zitternd von zu lange unterdrückten Gefühlen. Sie schenkte ihm ihre Geheimnisse, Teile ihres Herzens legte sie ihm in die Hand wie kostbare Perlen, bevor sie sich wieder verkroch, sich hinter ihre eisige, schöne Fassade zurückzog und diese verletzliche, schöne Seele
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