Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
angezogen hatte, und setzte sich unglücklich vor die Spiegelkommode, um sich kritisch zu betrachten. Wieder einmal. Vielleicht sollte sie alle Spiegel verhängen.
Was war so falsch an ihr? War sie wirklich so hässlich? Sie fand sich selbst eher durchschnittlich, wenn man von den Myriaden von Sommersprossen absah, die ihren Körper überzogen. Und so schlimm waren die auch nicht. Charles hatte sie ja noch nicht einmal gesehen! Die Nase war zu lang und zu gebogen, der Mund zu breit. Sie versuchte zu lächeln und gab es gleich auf. Viel zu breit. Hätte sie Charles vielleicht nicht anlächeln dürfen? Aber sie konnte doch nicht für den Rest ihres Lebens ernst bleiben. Ihre Augen waren gerötet. Das sah natürlich unschön aus, aber vorher hatte sie ja noch nicht mit Tränen gekämpft.
Sie riss die Nadeln aus ihrem – extra für Charles! – kunstvoll hochgesteckten Haar und begann, es mit wilden, wütenden Strichen zu bürsten, dabei jeden weiteren Blick auf ihr Spiegelbild vermeidend. Im Grunde musste sie gar nicht erst nachdenken, was an ihr hässlich war. Sullivan und seine Freunde hatten es deutlich genug hinausposaunt, und Charles hatte es gehört. Sie hatten ihn damit sozusagen sogar mit der Nase daraufgestoßen, bevor er selbst dahintergekommen war! Widerliche Kerle, in der Hölle sollten sie schmoren!
Und dieser Heiratsantrag? Der war vermutlich die Schuld ihres Vaters. Da gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Charles, als Gentleman, der er trotz allem nun einmal war, hatte sich überreden lassen. Ihre Abreise hatte gar nichts genützt. Sie hatte ja keine Ahnung, was bei Charles’ Heimkehr möglicherweise vorgefallen war! Vielleicht hatte Sir Percival ihm abermals zugesetzt, und – Harriet schniefte bei diesem Gedanken auf – Charles hatte sie dann eben bei dem unerwarteten Wiedersehen gefragt. Deshalb das dämliche Gerede von Respekt und Achtung und … was auch immer. Sie warf ihrem Spiegelbild einen missgünstigen Blick zu. Kein Wunder. Jeder andere Mann hätte zumindest gelogen, aber Charles war wohl zu ehrlich … Nein, so ehrlich war er auch wieder nicht, im Grunde war er recht verlogen. Harriet fand diesen Gedanken seltsam tröstlich. Der Mann hatte schon gewisse gravierende Fehler.
Harriet gab es auf, ihr Haar und ihr Herz zu malträtieren, warf die Bürste fort und gönnte sich eine Waschung mit kühlem, nach Rosenöl duftendem Wasser, bevor sie in ihr leichtes Nachthemd schlüpfte. Das tat gut. Das hatte sie auf der monatelangen Reise viel zu sehr vermisst. Im Grunde war es das Schlimmste für sie gewesen, kaum Wasser zur Verfügung zu haben und ihre Wäsche mit Salzwasser reinigen zu müssen. Das Rosenöl war Charles’ Geschenk, ebenso wie die in großen Schalen im Raum verteilten Blüten, deren zarten Duft Harriet tief darüber gebeugt eingeatmet hatte. Sie setzte sich auf das Bett und strich über die weiche Seidendecke. Auch diese war eine Aufmerksamkeit von Charles. Er hatte eigenes Bettzeug ins Hotel schaffen und von einem ganzen Heer von Dienern die Zimmer reinigen lassen, bevor Harriet eingezogen war.
Es war seltsam. Er tat so viel für sie, machte ihr Geschenke, war ungewöhnlich fürsorglich. Nur kam er ihr nicht zu nahe. Wenn er sie so abstoßend fand, zu dünn, zu groß, zu gefleckt, zu sonst was, wie wollte er dann eine Ehe mit ihr führen? Wollte er ihr einen Sack überwerfen, wenn er sie … Siedend heiß kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht gar keine richtige Ehe plante! Kam daher dieses Gerede über Respekt?
Harriet schluckte. Das musste sie noch klären, und zwar schleunigst. Vielleicht wollte er ja nur eine Frau, die er der Gesellschaft präsentieren konnte, die er aber nicht anrührte, während er sich an schönen, anschmiegsamen indischen Geliebten schadlos hielt! Der Gedanke war schrecklich. Unerträglich! Sie warf sich mit einem Aufstöhnen ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
Bald darauf sprang sie wieder auf, viel zu unruhig, um zu schlafen, öffnete die Fensterflügel und trat auf die Arkaden hinaus. Die Lichter der Stadt hüllten die Umgebung in einen schwachen Schimmer. Der Wind brachte die Gerüche der See, des Hafens, von blühenden Sträuchern und gegrilltem Fleisch mit sich und ließ die zwei Laternen in den Arkaden leicht hin und her schaukeln. Nachtaktive Insekten umflatterten nervös die tanzenden Lichter und prallten an den Glasscheiben ab.
Harriet lehnte sich an die Balustrade, schüttelte ihr Haar aus und hielt ihr glühendes
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