Die Sehnsucht des Freibeuters: Er war der Schrecken der Meere - doch sein Herz war voller Zärtlichkeit. Roman (German Edition)
Gesicht in die Brise. Sie hatte reichlich Wein getrunken. Vielleicht kamen die schlechten Gedanken nur davon. Alkohol hatte bei ihr nicht immer diese aufheiternde Wirkung wie auf andere. Wenn sie ein Glas zu viel erwischte, wurde sie traurig.
Von rechts drangen Stimmen, Lachen, Musik und Gesang herauf. Offenbar wurde ein Fest gefeiert.
Sie huschte an Charles’ Fenster vorbei. Die Türen waren einen Spalt geöffnet, aber die Vorhänge waren zugezogen. Aus dem Zimmer kam kein Laut. Und selbst wenn, wäre jedes Geräusch von den Feiernden überdeckt worden. Sie ging langsam weiter, angezogen von der Gruppe fröhlicher Männer und Frauen, die auf dem Platz neben dem Hotel ein Lagerfeuer entzündet und sich darum geschart hatten. Harriet lehnte sich im Schutz der Dunkelheit an die Balustrade und blickte neugierig hinab.
Es wurde schon besser. Sie konnte nie lange traurig sein, und die freudige Stimmung dieser Menschen griff auch auf sie über. Außerdem war die milde Nachtluft wie Balsam auf ihrer Haut und ihrer Seele, und sie spürte eine wunderbare, angenehme Leichtigkeit in ihrem Kopf. Das dünne Nachthemd ließ den Wind über ihren Körper streifen und erweckte eine unbestimmte Sehnsucht, ein Verlangen nach Nähe, nach Berührung, nach Händen, die sie hielten, streichelten. Nach warmen Lippen, die über ihre glitten. Nach Charles. Sie seufzte leicht.
Sie hatte, wenn man von den wenigen Küssen absah, die sie von Jahan erhalten hatte, und jenem höchst denkwürdigen, mit dem Charles und sie damals ihre »Freundschaft« besiegelt hatten, wenig praktische Erfahrung, wenn auch gewisse, theoretische Grundkenntnisse. Amiya und ihre Dienerinnen waren nicht mit derselben Zurückhaltung erzogen worden wie ein englisches Mädchen, und die Frauen von Amiyas Vater hatten Vergnügen daran gefunden, die harmlose junge Memsahib ein bisschen zu necken und ihr Geschichten zu erzählen, die Harriet jedes Mal eine verlegene Hitze in die Wangen getrieben hatten. Sie war also, wenn man so sagen wollte, unerfahren nur in der Praxis. Die Frauen hatten ihr auch Rollen mit fein gezeichneten Miniaturen gezeigt, die Harriet und Amiya damals gemeinsam studiert hatten. Für Amiya war dies nicht ungewöhnlich gewesen, die Mädchen gingen zwar unberührt in eine Ehe, aber nicht immer völlig unwissend und wurden oftmals in die Geheimnisse der körperlichen Liebe zwischen Mann und Frau eingeweiht, noch ehe sie auf dem Brautbett lagen. Harriets Mutter wäre gewiss vom Schlag getroffen worden, hätte sie auch nur andeutungsweise gewusst, was ihr behütetes Töchterchen zu hören und zu sehen bekam.
Harriet musste bei diesem Gedanken kichern. Aber sie fand es klug, die jungen Frauen vorzubereiten. Sie konnte sich an einige ihrer oberflächlichen Freundinnen erinnern, die sich vor der Hochzeit wichtig gemacht und dann beim nächsten Treffen eher unglücklich dreingesehen hatten, weil sie mit Dingen konfrontiert worden waren, die völlig ihrer Erziehung und ihrem engen Sinn für Anstand widersprachen. Nun, ihr würde das nicht passieren. Sie war von Amiya und deren Gefährtinnen schon längst – zumindest theoretisch – in die Kunst der Liebe eingeweiht worden.
Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, weshalb Amiya sie überhaupt einbezogen hatte. War das unter indischen Freundinnen so üblich? Oder hatte sie Harriet als zukünftige Konkubine ihres Bruders vorbereiten wollen? Harriet runzelte die Stirn. Dieser Gedanke war ihr bisher nie gekommen, aber weshalb sollte er ihrer indischen Freundin abwegig gewesen sein? Sie musste beinahe kichern, wenn sie daran dachte, dass sie Amiyas theoretische Schulung jetzt dafür verwenden wollte, einen anderen zu verführen. Einen, der ihre Gedanken und Gefühle so vollständig einnahm, dass ihre ehrbare Erziehung dagegen unwichtig wurde.
Harriet sah den Leuten eine Weile zu. Sie waren bunt gekleidet, bewegten sich geschmeidig. Die Musik war wild und mitreißend. Sie spürte, wie die Leidenschaft dieser Menschen, die sich niemals in ein englisches Korsett hatten zwängen müssen, sie ebenfalls erfasste, bis ihr ganzer Körper im Rhythmus der Musik und der Tanzenden mitschwang. Hitze stieg in ihr auf, eine Sehnsucht, ein Verlangen nach Zärtlichkeit, Leidenschaft. Was Charles wohl sagen würde, wenn sie jetzt einfach in sein Zimmer marschierte, das Nachthemd fallen ließ und sich zu ihm in sein Bett schmiegte?
Er wäre vermutlich zutiefst entsetzt. Wahrscheinlich würde er sogar die Verlobung lösen.
Ja,
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