Die Sehnsucht ist größer
daß das Kloster bereits um 21.15 Uhr schließt - um die Zeit bekommt man hier in Spanien gerade mal was zu essen. Und so haben sich die beiden auch entsprechend mit Lebensmitteln eingedeckt. Männer und Frauen sind getrennt untergebracht (Gott segne die Phantasie der Schwestern!) - aber interessanterweise sind die Duschen wieder gemeinsam. Und vor halb sieben morgens durfte auch keiner das Kloster wieder verlassen.
Zu Martin habe ich noch gesagt, jetzt fehlen eigentlich nur noch die beiden Iren, und als wir kurz darauf um eine Ecke biegen, steht plötzlich Gérard vor uns. Neville treffe ich wenig später in der Kathedrale - wieder mal in einer Kirche.
Die Stadt ist ausgesprochen lebendig - und die Kathedrale schlichtweg faszinierend. Die vielen Glasfenster, die Farben, die Weite des Raumes, das Spiel des Lichtes - ich bin froh, daß ich morgen nochmal Zeit für diese Kirche haben werde.
Christiane sitzt jetzt irgendwo im Zug in Frankreich. Morgen um 14.10 Uhr ist sie hier. Das wird ein neuer Abschnitt in diesen sechs Wochen - ich bin gespannt, wie es sich verändern wird.
Die Tage mit Martin waren wichtig für mich und schön. Er hat mich in vielem bestätigt, was mir wichtig ist, die Lebendigkeit, das Suchen und Fragen. Und ich werde daran erinnert, daß ich das Leben nicht festhalten kann. Festhalten würde das Geschenk der letzten Tage zerstören. So ist es gut, daß Martin morgen wieder geht, ich hier bleibe, daß wir keine Verabredung getroffen haben, sondern uns einfach freuen können an dem, was ist und sich vielleicht noch ergibt.
León, 0.15 Uhr
Und doch tut es ziemlich weh, ihn wieder gehen zu lassen. Die Tage waren so dicht und intensiv, daß ich jetzt fast einen Tag dazwischen, einen Tag für mich, bräuchte, um das alles halbwegs sortiert zu bekommen.
Ich bin dankbar für diese Begegnung, für die Stunden und Tage, ich ahne um die Wichtigkeit für mich, ohne sie jetzt schon beschreiben zu können - und ich denke, sie haben auch für Martin eine ganz eigene Wichtigkeit bekommen. Morgen früh werden wir noch zusammen frühstücken - und dann steht es in den Sternen, ob und wann wir uns Wiedersehen werden.
Auch das ist eine Dimension des Pilgerns: »Um sich in andere und neue Bindungen zu geben« (Hesse) - aber das ist nicht immer leicht. Immer wieder neu verwiesen werden auf das eigentliche Ziel, das Vorläufige wieder loslassen - Freunde finden - und sie wieder gehen zu lassen. Das ist es, was manchmal so schmerzhaft sein kann - aus dem Schutz der Mauern wieder heraus zu gehen, neu in die Ungeborgenheit... manchmal wünschte ich mir, angekommen zu sein...
Ich bekomme zunehmend Lust, aus León auch wieder hinauszulaufen, trotz der Straßenstrecke - und nicht den Bus zu nehmen. Meine Busetappen haben mir eigentlich gereicht -und das Hineinlaufen in diese Stadt fand ich ganz wichtig. Wie läßt sich das damit kombinieren, Christiane einen guten Einstieg zu ermöglichen? Und eigentlich fehlen uns zwei Tage bis Santiago. Andererseits - bevor nicht die ersten drei Tage miteinander gegangen sind, läßt sich eh nichts sagen.
Montag, 16.6.
León, 10.00 Uhr
Der Abend mit Martin war noch sehr gut. Wir hatten ein sehr tiefes und persönliches Gespräch in der Bar, dann sind wir durch León geschlendert - und das ist nur schön hier! Die Kathedrale ist angestrahlt, auf jeder Säule und jedem Säulchen hockt ein Storch, auf einer Glasfläche im Boden spiegelt sich die Kathedrale, Fledermäuse segeln lautlos umher. Und mit ein bißchen Mitgefühl denken wir an die anderen im Refugio. Zum Schluß trinken wir noch in einer Bar einen Vino tinto - und Martin kommt auch noch zu seinen geliebten Tapas. Seltsam, wie sehr man sich in drei Tagen an einen Menschen gewöhnen kann.
Mir fiel der Abschied schwer heute morgen, die Tränen saßen sehr locker. Und wieder mal im richtigen Moment tauchten Neville und Gérard auf. Das hat mir geholfen, halbwegs die Fassung zu bewahren.
Neville konnte ich gut erzählen, daß ich mich auf Christiane freue - und zugleich ein bißchen Angst habe - und daß ich jetzt eigentlich einen Tag für mich bräuchte.
In den Tagen mit Martin zusammen hat sich mein Tagebuchschreiben verändert - ich fühl die Tiefe, aber ich kann sie nicht beschreiben. Ich fühl mich - und habe keine Worte dafür. Ich spür mich - und verstumme.
Und, so seltsam sich das anhören mag, ich bin ganz bei mir -und ganz nah bei dem, was ich Gott nenne. Ich bin voll mit Liebe.
León,
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