Die Sehnsucht ist größer
Autobahnbrücke steht an der neuen Pilgertrasse eine Bank. Ich mache eine Zigarettenpause und denke nach. Jetzt bin ich 11/2 Stunden gegangen - und das ist mir heute morgen wirklich schwer gefallen - und bin grad zwei Kilometer von dem Ort entfernt, wo ich letzte Nacht geschlafen habe. Und vor mir liegen 13 km langweilige Pilgertrasse - mir ist vollkommen unklar, wie ich die hinkriegen soll in dem Zustand, in dem ich bin. Ich denke noch: Beim Pilgern ist es wie im Alltag - immer gehen gleich drei Sachen schief, nie nur eine. Kein Quartier in Sahagun, das kaputte Telefon, heute morgen das Verlaufen. Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit, daß diese Pechsträhne aufhört. Und, es fällt mir grad auf - es ist tatsächlich Freitag, der 13. -, ich bin nicht abergläubisch, aber das verdutzt mich jetzt schon.
Die nächste Bank gehört schon wieder mir - und ich denk mir, wie soll das heute nur werden? Ein Pilger kommt vorbei, lacht mich an, bittet mich um eine Zigarette und setzt sich zu mir. Martin kommt aus dem Elsaß und spricht deutsch, so ist zur Abwechslung die Sprache kein Problem. Ich muß lachen, Martin ist der erste Pilger, den ich mit Regenschirm sehe. Er kontert, daß ich die erste Pilgerin mit einem Reiseaschenbecher sei, mit Regenschirm gäbe es noch einen. Wir kommen ins Gespräch - und dann fragt Martin behutsam, ob wir vielleicht ein Stück miteinander gehen wollen. Mir ist es in meiner Situation nur mehr als recht, mit jemandem zusammen zu gehen -und wenn man mal von den zwei Kilometern von Tardajos aus absieht, die ich mit Doris und David gegangen bin, so ist es für mich das erstemal, daß ich mich auf ein solch gemeinsames Unterwegs-Sein einlasse. Auch für Martin ist es das erstemal, daß er mit jemandem zusammen geht.
Martin wurde für mich zur Rettung an diesem Tag, ohne ihn wäre es ein Kampf gewesen, so lockert sich mein Gehen allmählich wieder. Er legt ein ziemliches Tempo vor, aber das zieht mich gut mit. Und die Gespräche werden zunehmend dichter und intensiver - es paßt zusammen.
Im nächsten Ort suchen wir die Bar - auch das verbindet uns: Wir gehören beide nicht zu den Menschen, die auf einer solchen Wanderstrecke eine Bar einfach links liegen lassen und auf den damit möglichen Kaffee verzichten. Martin hechtet noch dem wegfahrenden Brotwagen hinterher, weil es in der Bar kein Bocadillo gibt und kommt nach einiger Zeit mit Brot, Käse und Nektarinen zurück - er hat sogar einen kleinen Laden entdeckt. Und so sitzen wir in der Bar, bei café con leche, Käse, Obst und Brot - und verstehen uns bestens.
Hatte ich gestern noch gedacht, du meine Güte, nur noch drei Tage allein unterwegs, so bin ich heute froh um die Begleitung. Die nächsten fünf Kilometer gingen sich gut - nachdem wir uns in der Bar noch gegenseitig offenbart hatten, daß jeder meinte, der andere geht eigentlich ziemlich schnell. Nachdem wir das wußten, konnten wir das Tempo gut rausnehmen - und es blieb genug Luft zum Reden - und geredet und gelacht haben wir viel.
Als nach gut einer Stunde eine Bank kommt, schlage ich eine Zigarettenpause vor - und plötzlich nimmt mich Martin in den Arm und küßt mich ausgesprochen geübt. Hoppla, denk ich noch - der geht aber auch ganz schön ran. Und dann habe ich erstmal gar nichts mehr gedacht. Ich war ein bißchen überrascht, aber nicht unangenehm berührt - im Gegenteil. Nach diesen drei Wochen des allein Unterwegs-Seins tut es gut, sich einmal bergen zu können, sich in das Gehalten-Sein und die Wärme anderer Arme hineingeben zu können - und gleichzeitig spüre ich, daß es in mir keine Gänsehaut- und keine Fahrstuhlgefühle auslöst, ich nicht in Gefahr bin, mich zu verlieren. Es ist einfach gut und schön - und vollkommen in Ordnung so. Ich bin dankbar für diese Zärtlichkeit, und an keinem anderen Tag meines Unterwegs-Seins hätte ich sie so notwendig gebraucht. Und fast scheint es mir, als ob diese Begegnung mit Martin auch so eine Art Geschenk ist.
Das Refugio hier ist sehr schön und füllt sich zunehmend mit Pilgern, die Sahagún angesteuert haben und dort vor verschlossenen Türen standen. Von Martin hatte ich schon erfahren, daß Doris und David wieder auf dem Weg sind - aber als die beiden vorhin zur Tür reinkamen, habe ich doch einen mittleren Schrei losgelassen. Doris’ Fuß ist soweit ausgeheilt, dafür humpelt jetzt David. Nun hat er sich den Fuß verknackst. Fast keiner hier im Refugio verzieht nicht ab und an das Gesicht vor Schmerz bei einer
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