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Die Sehnsucht ist größer

Die Sehnsucht ist größer

Titel: Die Sehnsucht ist größer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schwarz
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selbst verbietet. Die Refugiotür ist dummerweise so konstruiert, daß man zwar rausgehen kann, aber dann nicht wieder hineinkommt. Und so sitze ich jetzt auf der Steinstufe am Eingang, halte mit einem Fuß die Tür zum Refugio auf, rauche eine Zigarette - und hätte eigentlich durchaus die nötige Bettschwere.
    Als ich in den Schlafsaal zurückkomme, ist die Luft zum Schneiden dick, ich ziehe meine Uhr aus der Hosentasche - um Gottes Willen, erst Viertel vor Drei! Wie soll ich diese Nacht bloß rumkriegen?
    Fluchtgedanken steigen in mir hoch - aber wohin will ich nachts um 3.00 Uhr in Astorga flüchten? Selbst, wenn ich jetzt eine Stunde durch die Stadt liefe, käme ich dann nicht mehr ins Refugio hinein. Mich neu auf den Weg zu machen, würde ich ja vielleicht in Erwägung ziehen, wenn ich alleine unterwegs wäre - aber wie soll ich in diesem Menschengewimmel Christiane finden, die ja vielleicht doch ganz ruhig und sanft schläft? Wie im Dunkeln alles zu Packende finden?
    Ich find die Idee der Refugios gut, ich bin dankbar, daß uns diese Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden -aber wenn so ein Refugio komplett belegt ist, ist es nicht schön. Und ich frag mich, was hier im Sommer wohl los sein mag.
    Ich habe nichts gegen einfache Refugios, da habe ich durchaus schon sehr ruhige Nächte erlebt - sowas wie hier, das mag ich nicht. Ich habe durchaus Lust, mit dem einen oder anderen Pilger ins Gespräch zu kommen - aber wenn für 36 Leute ein Vor raum mit 12 Stühlen zur Verfügung steht, dann kommt man auch nicht ins Gespräch. Dann flieht jeder, so gut und so schnell er kann.
     
     

Donnerstag, 19.6.
     
     
    Santa Catalina, 17.00 Uhr
    Du meine Güte, war das viel in den letzten Tagen...
    Die 27 km gestern von Villadangos nach Astorga haben wir beide überraschend gut überstanden - aber das Refugio nicht so besonders. Christiane hat es ähnlich agressiv wie mich gemacht - und das gerade oder trotz des schönen Abends.
    Gestern am späten Nachmittag, ich war grad am Wäschewaschen, steht plötzlich Martin in der Tür. Auch ihn hat es jetzt »hinausgekickt« - die Achillessehne an einem Fuß ist angeschwollen. Die letzten Kilometer konnte er vor Schmerzen nicht mehr gehen, so ist er per Anhalter in Astorga »eingelaufen«. Durch Zufall war ein deutscher Orthopäde zu Gast in dem Hotel, in dem Martin sich einquartiert hat, der hat ihm Empfehlungen für Tabletten gegeben und den dringenden Rat, zwei Tage zu pausieren.
    Martin hatte sich wirklich vorher auf der Alternativstrecke hinter Leon verlaufen. Er merkte erst auf, als ihm ein Bewohner freudestrahlend erklärte, daß es schön sei, daß mal wieder ein Pilger da wäre - im letzten Jahr wäre eine Frau dagewesen. Ein Pilger pro Jahr - das konnte nicht der offizielle camino sein...
    Wir waren zu dritt miteinander essen, und als Martin und ich dann alleine in der Bar sind - Christiane hatte taktvoll den Rückzug angetreten -, waren wir uns einig, daß es genau diese Erfahrungen sind, die den Weg zum camino machen. Es geht nicht ums Stempelsammeln, es geht nicht ums Kilometerzählen, es geht genau darum, all diese Möglichkeiten von Erfahrungen, die am und neben dem Weg bereit liegen, wahrzunehmen, mich ihnen zu stellen, mich zu öffnen. Und es geht darum, sich die Zeit zu gönnen, auf das eine nicht schon gleich wieder das Nächste folgen zu lassen.
    Mich haben die Überlegungen in der Idee bestärkt, heute nur eine halbe Tagesetappe zu machen, um Zeit zum Schreiben, zum Nachdenken, zum Nachspüren zu haben. Zudem ist es für Christiane der dritte Tag - und der ist ja immer ein bißchen kritisch. Und dann kam noch das Nicht-schlafen-können in Astorga dazu...
    So haben wir uns kurzerhand entschieden, aus der momentanen Pilgermassenbewegung auszuscheren - wir lassen sie ihre Tagesetappen machen. Es ist niemand dabei, dem wir nachtrauern - und die, denen ich nachtrauere, die beiden Iren, Doris und David, sind eh schon so weit voraus, daß wir sie wohl frühestens in Santiago wiedertreffen werden. Und Martin ist irgendwo hinter uns. Ob er uns einholen wird?
    In Astorga haben wir uns noch die Kirche angesehen, die mich durch ihre Höhe fasziniert. Plötzlich zupft uns ein Mann am Ärmel, nimmt uns zur Seite - und stempelt uns liebevoll den Stempel der Kirche in den Pilgerausweis. Jede für sich haben wir dann noch die Laudes gebetet - ich hab mich auf die Stufe im Eingang zurückgezogen, bin dort gesessen, irgendwie emporgezogen durch die Höhe der

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