Die Sehnsucht ist größer
plötzlichen Bewegung. Fast alle sind irgendwie angeschlagen, lädiert, verpflastert, tragen eine Elastikbinde.
El Burgo Ranero, 18.00 Uhr
Gerade eben ist eine Schafherde vorbeigezogen, ein schönes Bild - und natürlich ist der Fotoapparat im Refugio. Die Herde folgt vertrauensvoll dem Schäfer, einem alten Mann mit abgetragenen Kleidern und Zähnen, die einem Zahnarzt mindestens eine Woche Arbeit bescheren würden. Die Schafe scheinen sich nicht daran zu stören, sie folgen ihm, weil sie wissen, daß er ihnen gut will. Ich höre das Blöken eines Lammes und gucke mir fast die Augen aus, aber ich sehe es nicht - bis mein Blick plötzlich auf den Rücken des Schäfers fällt. In einer Jutetasche trägt er das kleine neugeborene Lamm auf seinen Schultern, weil es mit der Herde noch nicht Schritt halten kann. Es ist ein Bild, das mich sehr berührt - und zum erstenmal kann ich mit dem Bild vom »Guten Hirten« was anfangen, der das Lamm auf den Schultern trägt. Da ist einer, dem man vertrauen kann, da ist einer, der einen trägt, wenn man nicht mehr oder noch nicht Schritt halten kann, da ist einer, der für mich sorgt. Ob es wohl sein kann, daß die Schafe, allgemein als dumm verschrien, vielleicht doch ein bißchen intelligenter als wir Menschen sind? Sie wissen und spüren noch, wer und was ihnen gut tut.
Gerade kommt Martin vorbei und zeigt mir ganz beiläufig das Foto von seinem dreijährigen Sohn. Man merkt die Absicht - und ich schmunzle ein bißchen vor mich hin. Aber es ist gut so.
Samstag, 14.6.
Mansilla de lasMulas, 16.00 Uhr
Ach, bin ich froh, daß ich nicht nach León rein bin! Die Weite dieser Landschaft so abrupt mit der Großstadt zu vertauschen, das wäre anstrengend gewesen. Und es tut gut, noch einen Abend in der vertrauten Pilgergruppe zu sein - Martin, Doris und David, und noch einige andere, die ich von gestern abend her kenne. Und das Refugio ist ausgesprochen hübsch, mit einem kleinen Innenhof, im Moment wäscht die Waschmaschine meine Wäsche, wir wurden von Santiago (er heißt wirklich so!) herzlich begrüßt - und morgen gibt es hier sogar Frühstück! Heute abend ganz allein in der großen Stadt - das hätte mir nicht gut getan.
Gestern abend waren wir mit einigen Pilgern noch miteinander essen - und zwischendrin immer mal wieder geklaute Augen-Blicke zwischen Martin und mir, wohltuende Nähe, entsprechende Gesten. Da ist viel Zärtlichkeit und durchaus auch ein wohltuendes Prickeln.
Ich kann es genießen, sehe es als Geschenk an, kann mich hineingeben, ohne mich zu verlieren, kann mich daran freuen und auch wieder loslassen - und in mir ist ganz viel Dankbarkeit, da ist Ehrfurcht und Freude.
Von den Seiten im Buch von Jean Vanier habe ich mich zu schnell getrennt. Aber an so was auf dem camino habe ich nun wirklich nicht gedacht. Ich erinnere mich nur daran, daß er etwas schreibt von der Freude am Spiel der Menschen aneinander.
Ich traue uns beiden zu, gut und verantwortlich mit dem umzugehen, was uns da geschenkt wird - und unserer Freude aneinander durchaus den passenden Ausdruck zu geben. Wir halten einander - aber wir halten uns nicht fest. Gestern haben wir kein Wort darüber verloren, ob wir heute nochmal zusammen gehen, es blieb offen. Wir haben uns gefunden im Staunen über das Leben und die Lebendigkeit - auch unsere eigene.
Heute nacht habe ich noch eine Viertelstunde vor dem Refugio gesessen. Der Himmel ist hoch und klar und weit - und vom kleinen Teich her quaken die Frösche.
Um halb sechs klingelte irgendwo der erste Wecker, dann brach die große Unruhe aus. Als ich das Licht am Horizont sah, zog ich mich notdürftig an, schnappte mir Fotoapparat und Geldbeutel angesichts der Aussage, daß die Bar angeblich ab 6.00 Uhr geöffnet sein soll. Ich verbringe eine ruhige halbe Stunde auf der Bank, sehe dem aufgehenden Licht zu, spüre eine tiefe Dankbarkeit für die vergangenen Wochen, den gegangenen Weg - und bin an diesem Morgen ganz einfach verliebt in die Schöpfung und die Welt.
Dann noch ein Kaffee in der Bar - der Inhaber hatte sich ganz gut auf die Situation der Pilger eingestellt, dort gab es auch schon Abendessen ab acht Uhr abends. Als ich kurz vor sieben Uhr ins Refugio komme, ist es fast schon leer. Martin klüngelt noch herum, Doris und David frühstücken, der Brasilianer ist noch da und das holländische Ehepaar.
Schließlich ganz vorsichtig meine Frage an Martin, wie er es denn heute machen wolle - lieber alleine gehen oder
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