Die Sehnsucht ist größer
13.30 Uhr
Du meine Güte, dieser Mensch fehlt mir - das hätte ich nun wirklich nicht gedacht -, und in einer halben Stunde kommt der Zug mit Christiane. Und ich bin noch nicht mal mit diesem Kapitel fertig - will ich überhaupt damit fertig sein? Das wäre noch die Frage...
Ein bißchen verliebt? Vielleicht eher: ein bißchen vertraut geworden...
Was mir nachgeht, ist das, was Martin erzählt hat, wovon Neville gesprochen hat oder auch Flavio, der Brasilianer, dem ein Freund kurzerhand die Freundschaft aufgekündigt hat, als er von seinem Plan mit dem camino erzählte: Jeder hier auf dem Weg hat seine Verletzungen und Verwundungen - die körperlichen sind leichter zu erkennen und zu behandeln. Die seelischen Verwundungen sitzen tiefer, die sieht man erst auf den zweiten Blick - und da sind die Menschen ein bißchen hilfloser, wie sie damit umgehen sollen. Manchmal scheint mir, als ob der camino die fast unerfüllbare Aufgabe übernehmen soll, auf wundersame Art Heilung für diese seelischen Verletzungen zu bringen.
Die Geschichten der Menschen, die auf diesem Weg unterwegs sind, sind oft sehr traurige Geschichten. Und es tut mir weh, mit dem konfrontiert zu werden, was Menschen einander antun können. Ich glaube, es braucht viel Liebe, damit diese Verletzungen ein wenig heilen können. Ob man wohl Verletzungen weglieben kann?
León, 14.30 Uhr
Christiane ist da - und da treffen schon auch zwei Welten aufeinander -, so vertraut Christiane und ich auch sein mögen. Ich kann diese 3 1/2 Wochen, die hinter mir liegen, nicht so einfach wegstecken - und will es auch nicht. Und diese Wochen haben viel mit mir gemacht - das merke ich an der Begegnung mit dem, was in die »Zeit vorher« gehört. Noch paßt der Schritt nicht. Wahrscheinlich muß man den Welten Zeit geben, sich ganz behutsam anzunähern.
León, 19.30 Uhr
Der neue Anfang kostet mich viel Kraft. Immerhin - León gibt sich Mühe für Christiane. Schönes Wetter, Leben auf den Straßen, die Kathedrale, die Störche - hoffentlich habe ich mir auch genug Mühe gegeben. Nach den letzten Tagen in der Meseta fällt es mir schwer, die Stadt auszuhalten, all das Laute, Bunte, Viele. Und ich ahne, daß gerade die Erfahrungen der letzten Tage süchtig machen können, auf den camino zurückzukehren. In mir ist die Sehnsucht nach der Weite, den Wolken, dem Wind. Und ich freue mich drauf, daß es morgen wieder losgeht - zusammen mit Christiane.
Bewußt geworden ist mir vorhin, daß man über den camino viel erzählen kann - aber man muß es erleben. Und hier in León davon zu erzählen, das ist schon, als sei man in einer anderen Welt.
Kalt ist es hier heute abend - der Wind der Meseta macht nicht vor den Stadtmauern halt.
León, 23.00 Uhr
Grad find ich die Stelle bei Jean Vanier wieder, die ich kürzlich gesucht habe, als ich es mit dem »freier geworden« hatte:
Der Armut unseres menschlichen Verstandes scheint die Möglichkeit eines von Gott erdachten Schicksals einerseits und die Vorstellung von Freiheit andererseits unvereinbar. Und doch stimmt das nicht. Denn die Weisheit Gottes und seine Achtung vor jedem Menschen sind so groß, daß ein Schicksal höchster Erfüllung und persönlicher Freiheit fein miteinandere vermählt sind, und aus dieser Einheit strömt die Herrlichkeit Gottes und seiner Schöpfung. Gott kennt das Geheimnis, wie er uns zur Freiheit lieben kann, und er lädt uns ein, an der schöpferischen Liebe teilzuhaben.
Weil so viele vor uns eine erstickende, lähmende oder besitzergreifende Liebe erfahren haben, fällt es uns schwer, an eine Liebe zu glauben, die zur Freiheit führt, und an einen Plan Gottes, der weit über das hinausreicht, was wir vom Wunder und der Schöpfung kennen.
Das erinnert mich an meine Gedanken von heute mittag: Kann man Menschen zur Freiheit lieben? Kann man Verletzungen weglieben? Fühle ich mich von Gott zur Freiheit geliebt? Lasse ich von ihm meine Verletzungen weglieben? Geht das überhaupt?
Für den ersten Tag hat Christiane wohl ganz gut »andocken« können. Das Abendessen war hervorragend, die Störche haben auf der Kathedrale eine Galavorstellung geliefert, die Fledermäuse sind programmgemäß erschienen. Jetzt gilt es, einen Rhythmus im Gehen zu finden und sich Schritt für Schritt wieder von dieser Stadt zu entfernen. Ich freu mich drauf - und vielleicht treffen wir die anderen unterwegs doch noch mal -und nicht erst in Santiago.
In mir ist die Frage, wie wird das mit dem Heimkommen sein,
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