Die seidene Madonna - Roman
gegangen war.
»Guter Mann«, sagte Gauthier und nahm den Kutscher am Arm, »Ihr solltet nicht bis zum Abend warten, wenn Ihr weiterwollt.«
»Aber er kann doch bis morgen früh bleiben«, mischte sich Alix
ein. »Fougasse und Amandine haben in ihrem Stall genug Platz für ein Pferd und seinen Herrn.«
»Wäre es Euch recht, bis morgen früh zu bleiben?«, fragte sie an den Kutscher gewandt.
»Und ob mir das recht wäre!«, sagte der. »Herzlichen Dank für Eure Gastfreundschaft.«
»Also abgemacht! Euer Pferd bringen wir in den Stall, den Wagen können wir im Hof lassen - er wird schon nicht erfrieren.«
»Ich geh nur noch schnell die Decke und meinen Überrock holen, damit mir später nicht der Bart abfriert«, meinte der Kutscher lachend und ging nach draußen. Aber kurz darauf hörte man ihn rufen:
»Hab ich’s mir doch gedacht!«
Als Arnold hinausging, um nachzusehen, was los war, hielt er in der einen Hand die Decke, in der anderen seinen Überrock, er deutete hinter die Kutsche und donnerte:
»Das ist keine Katze und auch kein Hund! Schaut mir eher nach einem Bengel aus. Achtung, er will weglaufen, fangt ihn ein, Monsieur Arnold!«
Arnold war geschickter als der dicke Mann und schaffte es, den Ausreißer am Kragen zu packen und mitzunehmen.
»Aber das ist ja ein kleiner Junge - ein Dreikäsehoch!«
Da wurde der kleine Kerl rot vor Zorn und plärrte:
»Ich bin kein kleiner Junge!«
»Nein?«, gab Arnold zurück, »aber vielleicht ein kleiner Dieb.«
Von dem Geschrei aufgeschreckt, sah Alix durchs Fenster und eilte dann nach draußen.
»Was ist das für ein Kind?«
»Der schaut mir ganz nach einem Dieb aus!«, schimpfte der Kutscher. »War bloß nix zu holen in der Kutsche, deshalb wollt er sich aus dem Staub machen.«
Er wollte den Jungen schlagen, aber Arnold ging dazwischen.
»Lasst das - er soll sagen, was er hier macht.«
»Ich bin kein Dieb!«, schrie das Kind.
»Was hast du dann hier verloren?«, fragte Alix, die neben ihm aufgetaucht war.
Das Kind war höchstens zehn Jahre alt. Vielleicht eher acht, weil es so klein war. Oder doch schon zwölf, weil es bereits sehr reif wirkte. Wie auch immer, jedenfalls sah es Alix frech ins Gesicht, musterte sie misstrauisch, schüttelte zornig seine zerzausten, schmutzigen Haare, zögerte und schleuderte schließlich in einem Atemzug heraus:
»Ich wollte in dem Wagen übernachten, weil er leer war.«
Anstelle einer Antwort nahm Alix das Kind am Arm und bedeutete Arnold, er solle seinen Hemdkragen loslassen.
»Komm mit, gehen wir ins Haus. Da kannst du vielleicht besser erklären, was los ist. Aber wenn du lügst, setzen wir dich sofort vor die Tür.«
Sobald das Kind im Warmen war, wagte es ein schüchternes Lächeln und rieb sich die kalten Hände.
»Wie alt bist du denn?«
»Wenn ich Euch die Wahrheit sage, glaubt Ihr mir ja doch nicht.«
Alix musste sich auf die Lippen beißen. Die gleiche Antwort hatte sie früher auch gegeben, wenn sie nach ihrem Alter gefragt wurde. Mit acht sah sie aus wie dreizehn, und keiner wollte ihr glauben. Bei dem Jungen war es wohl umgekehrt. Sie war sich ganz sicher, dass er kein kleines Kind mehr war.
»Sag mir die Wahrheit, ich glaube dir.«
»Ich bin dreizehn.«
»Aber man hält dich für acht.«
Der Junge nickte.
»Und wo sind deine Eltern?«
»Glaubt Ihr vielleicht, ich würde in einer leeren Kutsche schlafen wollen, die am Straßenrand steht, wenn ich noch Vater und Mutter hätte?«
»Wo hast du meinen Wagen entdeckt?«, schimpfte der Kutscher.
»Ich bin kurz vor Tours hineingeklettert. Ihr hattet einmal angehalten.«
»Verdammt! Ich wollte die Achsen kontrollieren. Dann bist du wieder raus, als das Pferd gestolpert ist und der Wagen in den Graben gerutscht ist. Hast wohl Angst gekriegt, was?«
»Ich hab’ gesehen, dass Ihr den Wagen wegbringt«, sagte der Junge etwas freundlicher. »Da hab’ ich mir gedacht, dass ich vielleicht da drin übernachten kann, wenn ich irgendwie in den Hof komme. Zum Glück hat die Dame das Tor nicht gleich wieder zugemacht.«
Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf den Kutscher.
»Aber der da ist zurückgekommen, als ich nicht damit gerechnet hatte. Ich war so müde, dass ich gleich eingeschlafen bin.«
Auch das kannte Alix nur zu gut. Aber es war schon lange her, dass sie als kleines Waisenmädchen wie dieser Junge in leeren Kutschen geschlafen hatte, die sie irgendwo entdeckt hatte.
Der Junge log nicht. Das spürte sie. Wäre er ein bisschen jünger,
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