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Die seidene Madonna - Roman

Die seidene Madonna - Roman

Titel: Die seidene Madonna - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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hätte er vermutlich angefangen zu schluchzen bei dem Gedanken hinausgeworfen zu werden. Doch die vergangenen Jahre hatten ihn herausfordernd und selbstbewusster gemacht. Dennoch wirkte er so, als würde er bald klein beigeben.
    »Na gut, aber was machst du denn hier, wenn du ein Waisenjunge bist? Warum wächst du nicht in einem Kloster auf?«
    Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, wie dumm diese Frage eigentlich war. Die Mönche kümmerten sich nicht um alle Waisenkinder.
Nur weil sie vier Jahre in einem Kloster leben musste, hieß das noch lange nicht, dass alle elternlosen Kinder dort untergebracht wurden. Viele lebten auf der Straße und mussten um jeden Kanten Brot betteln.
    »Also, erzähl mir, was du machst«, forderte Alix ihn auf.
    »Nichts.«
    »Dann sag mir, wer du bist.«
    Als der Junge nicht antwortete, mischte sich Arnold ein und fragte:
    »Was hat dein Vater gemacht?«
    »Weiß ich nicht, er ist gestorben, als ich noch ganz klein war.«
    »Und deine Mutter?«
    »Sie ist kurz nach meiner Geburt in einem Teich ertrunken.«
    »Aber wer hat dich denn dann aufgezogen?«, wollte Alix wissen.
    »Ach, irgendwelche Leute, mal die einen, dann die anderen.«
    Auf einmal sah der Junge furchtbar verdrossen aus. Mit einer Kopfbewegung warf er eine blonde Locke zurück, die ihm in die Stirn gefallen war. Weil sie aber widerspenstig blieb, strich er sie sich ziemlich grob mit der Hand aus dem Gesicht.
    Alix versuchte es mit einer anderen Strategie.
    »Was kannst du denn?«
    »Alles!«
    Der Kutscher brach in lautes Gelächter aus und drückte beinahe freundschaftlich seinen Arm. Allmählich glaubte er dem Jungen, was er sagte. Außerdem wusste jeder, wie schwer es für ein Waisenkind war, ganz auf sich allein gestellt zu sein, von Tür zu Tür laufen zu müssen und um Unterschlupf, Arbeit oder eine helfende Hand zu betteln.
    »Wenn einer sagt, dass er alles kann«, tönte er, »heißt das oft, er kann gar nichts.«

    »Doch! Ich kann einkaufen, die Pferde versorgen, fegen, aufräumen, Holz hacken, Blumen pflanzen, Heubündel machen und Getreide dreschen. Ich kann sogar Kühe melken und Schröpfköpfe setzen und …«
    »Und?«, fragte Alix. »Was hast du deiner eindrucksvollen Liste noch hinzuzufügen?«
    »Ich kann schon fast lesen«, sagte der Junge stolz.
    »Was soll das heißen, fast?«
    »Ich kenne alle Buchstaben, aber weiter bin ich mit dem Lernen nicht gekommen.«
    »Kannst du zählen?«
    »Ja.«
    »Lass mal sehen.«
    Da hielt sich der Junge die Hände vors Gesicht, spreizte die Finger und zählte laut: »eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn«, wobei er einen Finger nach dem anderen berührte.
    »Wie heißt du eigentlich?«, wollte nun der alte Gauthier von ihm wissen.
    »Pierrot.«
    »Also, Pierrot, wie wär’s, wenn du gegen Kost und Logis Florine beim Fegen, Aufräumen und Saubermachen der Werkstatt, beim Einkaufen helfen würdest, die Wollballen und die Leinwände schleppen und den Schuppen, den Stall und den Hof in Ordnung halten würdest?«
    Der Junge sah Florine an, und sein Blick blieb an ihrem gewölbten Bauch hängen. Sofort war Mathias bei seiner hochschwangeren Frau und nahm sie in die Arme.
    »Meine Frau kann diese ganzen anstrengenden Arbeiten nicht mehr erledigen, und sonst hat eigentlich keiner dafür Zeit. Wenn dir Gauthier die Arbeit anbietet, kannst du sie ruhig annehmen.«

    Der junge Pierrot sagte keinen Ton. Auf einmal sah er sehr ernst und reif aus. Er warf Alix einen finsteren Blick zu, merkte dann aber, dass sie offenbar nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden hatte. Da entspannte er sich ein wenig und zog eine Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte. Die Gelegenheit wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen! Er hatte schon so lange keine Arbeit mehr gehabt, weil er ständig auf der Flucht war, seit Gaubert, für den er im Stall und im Hühnerhof gearbeitet hatte, seine Frau umgebracht und ihn der Tat beschuldigt und behauptet hatte, er könne das auch beweisen.
    Pierrot war von Natur aus pfiffig, fröhlich und ein kleiner Spaßvogel, der von einem Herrn zum nächsten zog. Nun war er auf einmal ein verbitterter Heimlichtuer geworden, der sich aus allem herauswand, weil er sich überall verstecken musste.
    Aber was sollte man ihm jetzt noch anhaben, nachdem er quer durch ganz Frankreich geflüchtet war und sich so gut es eben ging mit kleinen Diebereien und Hilfsarbeiten durchgeschlagen hatte, um nicht zu verhungern? Marseilles war so weit weg vom

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