Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Mathys geradezu an seine Pflicht zur Nächstenliebe, die er an der kleinen Waisen zu erfüllen hätte. Schließlich wäre Fygen sein eigen Fleisch und Blut.
»Na, was das für ein Blut ist, will ich gar nicht so genau wissen«, entgegnete Mathys geringschätzig. Er hatte nicht einmal die Höflichkeit besessen, dem Pfarrer etwas zu trinken anzubieten.
Es war früh am Nachmittag, und der Geistliche war nach der, wie er zufrieden meinte, gelungenen Beerdigung in Hochform. Er hatte die Gemeinde gehörig daran erinnert, auf ihr Seelenheil zu achten, und ihr mächtig ins Gewissen geredet. Hatte er ihr doch heute ein lebendes, nein, eher totes Beispiel dafür geben können, wie schnell es geschehen konnte, dass man vor das Angesicht des Schöpfers treten musste. Danach hatte er sich im Bierzapf den einen oder anderen Krug von seinen Schäflein spendieren lassen.
»Der Herrgott wird es lohnen und dafür über so manch eine Sünde hinwegschauen«, lockte er.
»Das kann aber dauern, und inzwischen habe ich dieses Kind am Hals«, antwortete Mathys schnoddrig.
»Mein Sohn, du versündigst dich«, ermahnte der Pfarrer ihn entsetzt.
»Der Bellinghoven hat schon weitaus mehr bekommen, als ihm zusteht. Den halben Erbteil von meinem Vater hat er bekommen. Und wo ist das ganze Geld jetzt? Hä? Verzockt hat er es. Und ich soll jetzt auch noch auf sein Balg aufpassen. Nein wirklich nicht, Herr Pfarrer. Das kann keiner von mir erwarten.« Mathys schüttelte halsstarrig den Kopf.
»Ganz wie du willst«, antwortete der Pfarrer und zuckte wie hilflos mit den Schultern. »Dann bringe ich sie ins Findelhaus. Aber bestimmt wird sich die ganze Stadt darüber das Maul zerreißen, dass der Mathys Aldenhoven hartherzig ist und zu geizig, um seine arme kleine Nichte aufzunehmen, das hilflose Waisenkind, das beide Eltern so früh verloren hat. Was für ein schlechter Mensch der Mathys ist, werden sie sagen.« Und maliziös lächelnd fügte er hinzu: »Ob das gut ist fürs Geschäft, kann ich allerdings nicht sagen. Ich bin kein Kaufmann.«
Mathys zog ein finsteres Gesicht. Er wusste, wann er verloren hatte.
»Nun, das wäre geklärt. Ich schicke die Kleine dann gleich herüber«, sagte der Pfarrer, erhob sich und bedachte den Kaufmann mit einem strahlenden Lächeln. Dies war wirklich ein erfolgreicher Tag, fand er.
Lijse war seiner Meinung. Sie freute sich auf Irmas Tochter und fand es schlicht empörend, dass Mathys sich geweigert hatte, Fygen in sein Haus aufzunehmen. Wer sonst sollte sich um das Mädchen kümmern? Nicht dass es Lijse an Arbeit gemangelt hätte, doch es würde sicher nicht schaden, wenn ein Kind etwas Leben in den Haushalt des alleinstehenden Mannes brächte.
Lijse nahm einen Topf mit Rosinen vom Regal und mengte großzügig zwei gute Handvoll unter den Teig.
Nun, rückblickend musste sie gestehen, dass es schon recht viel Leben gewesen war, das Fygen mitbrachte. Entsprach sie doch so gar nicht den Vorstellungen, die man von einem gesitteten Mädchen ihren Alters hatte. Fygen war temperamentvoll, und da sie ohne Mutter aufgewachsen war, fehlten ihr fast sämtliche Manieren. Sie war unruhig bei Tisch, konnte nicht einmal während der Mahlzeiten ruhig sitzen bleiben, sondern sprang immer wieder auf, dass ihr Löffel klirrend auf die Tischplatte fiel. Außerdem sprach Fygen ungefragt und unaufgefordert, statt im Beisein von Erwachsenen sittsam mit gesenktem Blick zu schweigen, ganz gleich wer ihr Gegenüber war.
Eine Kostprobe ihres Temperaments gab Fygen bereits, als die Frau des Goldschmieds sie in Mathys’ Haus brachte.
»Sag deinem Onkel guten Tag«, ermahnte diese das Mädchen und schob die sich sträubende Fygen in Richtung ihres Oheims.
Der betrachtete seine Nichte nicht mit mehr Zuneigung, als er einem lästigen Insekt entgegengebracht hätte. Statt zu gehorchen und den Onkel höflich zu grüßen, musterte Fygen ihn eingehend. Dann entschied sie: »Dich mag ich nicht«, und wandte sich Lijse zu. »Aber du bist nett. Bei dir will ich bleiben.«
Wenn es noch etwas bedurft hätte, um Lijse für Fygen einzunehmen, dann wäre es dieser ehrliche Satz aus dem Mund des kleinen Mädchens gewesen.
Mathys warf seiner Haushälterin einen Blick zu, der besagte: Hab ich es nicht gesagt? Dreist und unverschämt. Von Bellinghovens habe ich nichts anderes erwartet. Doch Lijse übersah ihn geflissentlich.
Lijse formte den Teig zu einem runden Laib und bestäubte die Oberseite mit ein wenig Mehl. Dann legte sie ihn in einen
Weitere Kostenlose Bücher