Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
nicht! Diese dumme Trine ist doch das Lehrgeld nicht wert. Die soll sich hier nützlich machen und ihr Kostgeld abarbeiten.« Er blähte sich riesengroß hinter seinem Schreibpult auf, die dicken Adern an seinen Schläfen traten deutlich hervor, und sein Gesicht färbte sich purpurn.
Lijse ließ ihn brüllen und wartete auf den Moment, da er Luft holen musste. Ruhig sagte sie: »Nun, ich denke, Ihr solltet Euch den Vorschlag noch mal überlegen. Ich weiß nämlich nicht, ob ich mich nicht einfach verplappere und – sagen wir der Dietlind – erzähle, was Ihr Fygen, Eurem minderjährigen Mündel, antun wolltet, hier in diesem Raum. Ich bin ja nur ein dummes Weib, aber die Dietlind redet gerne und viel. Zudem ist einer ihrer Brüder Gehilfe beim Burggraf …«
»Hump«, war der einzige Laut, den Mathys von sich gab, und er schien wieder auf Normalmaß zusammenzuschrumpfen. Dann herrschte eine Zeit lang Schweigen im Kontor, und Lijse wusste, dass sie gewonnen hatte. Befriedigt atmete sie den wundervollen Duft nach frisch gebackenem, süßem Brot ein, der durch das Haus zog.
Das Leben hielt seltsame Dinge für den Menschen bereit, dachte Lijse, als sie zurück in die Küche ging. Es war schon ein wenig erstaunlich, dass Fygen nun ausgerechnet in jene Stadt gehen würde, aus der ihr leiblicher Vater stammte. Die Stadt, in der ein Teil ihrer Wurzeln lag, freilich ohne dass das Kind darum wusste. Vielleicht würde sie ihn ja dort … Energisch schob Lijse den Gedanken beiseite. Es erschien ihr höchst unwahrscheinlich, dass Fygen ihrem Vater in dieser großen Stadt jemals begegnen würde.
4. Kapitel
K urz nach Tagesanbruch verließ Fygen das Haus ihres Oheims. Das frühe Morgenlicht ließ die weiß gekalkten Mauern der Häuser bläulich schimmern, und ein rosafarbener Puder aus Licht lag auf der Stadt. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, und Reste einer kühlen Nacht klammerten sich an die Hauswände und klebten auf dem Pflaster. Fygen schob sich ihr Bündel über die linke Schulter und zog das wollene Schultertuch darüber enger um sich. Dann trat sie auf die Straße. Die Stadt, deren kleinste Winkel sie von Kindesbeinen an kannte, erschien ihr heute Morgen seltsam fremd und unwirklich.
Fygens kurzer Weg führte sie die Rheinstraße hinab, vorbei an einem der kleinen, achteckigen Wehrtürmchen, welche die Stadt und die Mauern von Zons schützten. Sie waren nur über eine Treppe zugänglich und wurden von den Einwohnern teils liebevoll, teils respektlos Pfefferbüchsen genannt.
Kurz darauf stand sie vor dem mächtigen Rheintor, das zugleich als Zollturm diente. Hier wurden die von vorbeifahrenden Schiffern und Kaufleuten erhobenen Zölle in einer großen eisernen Truhe sicher aufbewahrt.
Die Zölle waren es, die Zons zu einer begehrenswerten und wohlhabenden Stadt machten. Denn die Zollburg Pfalz-Kaub, eine kleine Insel, mitten im Rhein gelegen, bot sich geradezu an, vorbeifahrende Schiffe mittels Ketten und Seilen zu stoppen und Zölle zu erheben. Alle Waren wurden hier kontrolliert und erfasst, und dann wurden die entsprechenden Abgaben erhoben. Der Rheinmeister, weithin erkennbar durch sein rotes Gewand, den großen Schlüssel für die Truhe als Zeichen seiner Würde am Gürtel, wachte genauestens über die Einhaltung der Zollbestimmungen.
Wie immer wenn sie durch das Rheintor schritt, beeindruckte Fygen der mächtige Bau und flößte ihr Respekt ein. Als sie durch das Tor auf den Rheinvorplatz hinaustrat, verstärkte sich das Gefühl der Unwirklichkeit, das sie den ganzen Weg über begleitet hatte. Der sonst so geschäftige Platz lag ruhig und fast menschenleer vor ihr. In den Ästen der Gerichtsbäume hingen blassrosafarbene Fetzen von Morgennebel und gemahnten an die Seelen der Hingerichteten. Ein Schauder lief über Fygens Haut, genau oberhalb des Brustbeins. Eilig bekreuzigte sich das Mädchen, überquerte rasch den Platz und lief auf den Fluss zu.
Am Ufer lag ein einzelner Niederländer vertäut, eines dieser behäbigen, dickbäuchigen Boote, die den Rhein zwischen Köln, der größten Handelsmetropole nördlich der Alpen, und den niederländischen Häfen an der Nordseeküste befuhren. Bei günstigen Windverhältnissen und stromabwärts segelten sie mit einem flächigen, rechteckigen Großsegel und einer kleinen dreieckigen Fock. Stromaufwärts aber, wenn Petrus den Flussschiffern nicht wohlgesinnt war, mussten die Boote von Pferde- oder Ochsengespannen getreidelt werden.
Das Schiff hatte vor
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