Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
fanden, denn nur ein Teil der Ballen wurde von Peter auf den großen Messen in Frankfurt und Antwerpen, zu denen er jährlich reiste, abgesetzt.
Stolz ließ Fygen ihren Blick durch die Werkstatt schweifen. Sechs stabile Webstühle waren nun in Betrieb. An vieren wurde gewebt, zwei ließ sie die Mädchen gerade aufscheren. Und ein eigenes Kontor, direkt neben der Werkstatt, hatte sie auch bekommen, als sie im vergangenen Sommer in das neue Haus gezogen waren, das Peter für sie gekauft hatte. Es lag nicht allzu weit entfernt, nur ein Stück die Straße Obermarspforten hinauf an der Ecke zu Unter Wappensticker, in einer der vornehmsten Wohngegenden der Stadt. Doch Letzteres war nicht der Grund für den Umzug gewesen. Ihr wachsender Betrieb benötigte einfach mehr Platz. Das neue Haus war beinahe doppelt so groß und hatte Räumlichkeiten im Erdgeschoss, die bequem weit mehr als sechs Webstühle fassen würden. Dennoch hatte Fygen nur ungern das Haus Zum Rosenbaum verlassen. Sie hing an ihrem Haus, verband viele schöne Erinnerungen mit ihm, und es war eine ihrer ersten Handlungen im neuen Haus gewesen, einen Rosenstrauch vor ihr Fenster zu pflanzen, als könne er ein Stück des alten Heimes mitbringen.
Fygens Blick streifte Elsas stilles Gesicht und brachte ihr in Erinnerung, dass das anstellige Mädchen seine Lehrzeit bald beenden würde. Um Ostern würde Elsa ihre Prüfung machen und sie verlassen. Fygen würde daran denken müssen, das Mädchen rechtzeitig dazu anzuhalten, ihr Werkstück zur Vorlage beim Seidamt anzufertigen. Und schon bald würde sie ein neues Lehrmädchen aussuchen müssen. Fygen seufzte. Das war weiter keine Schwierigkeit, denn Fygen war begehrt als Lehrherrin und konnte unter den Mädchen wählen, doch sie würde die freundliche Elsa vermissen.
Abrupt wurde Fygen aus ihren Gedanken gerissen, denn erneut war rumpelnd ein Karren in den Hof gerollt, voll beladen mit Packen von Rohseide. Fygen eilte in die Werkstatt hinaus und rief die beiden Mädchen zu sich: »Tine, Ida, kommt her, ihr beiden. Zählt die Packen Rohseide genau nach, und dann schafft mir drei davon herein. Einen oben vom Karren, einen aus der Mitte und einen dritten von ganz zuunterst der Fuhre.« Fygen wollte sichergehen, dass die Qualität der Rohseide ihren Ansprüchen genügte, bevor sie diese zum Spinnen schickte. Zu leicht könnte ihr minderwertige Ware untergeschoben werden. Besser, man sorgte vor und prüfte gewissenhaft, dann konnten auch später die Spinnerinnen nicht behaupten, sie hätten von ihr schlechte Seide erhalten. Eigenhändig öffnete sie die Packen und zog ein paar Stränge hervor – auch hier galt: eine Probe von oben, eine aus der Mitte des Packens und eine von ganz unten – und hielt sie gegen das Licht. Kritisch betrachtete sie die Ware. Hatte sie einen einigermaßen gleichmäßigen Grundton? Wie war der Glanz? War keine Knotseide, das heißt mangelhafte Anfangs- und Endstücke der Kokons daruntergemischt? Kurz hob sie eine Strähne an die Nase und schnüffelte daran. Die Seide durfte in keinem Fall modrig riechen, ein Zeichen für Fäule durch unsachgemäße Lagerung, und, was noch schlimmer war, es ließ den Verdacht aufkommen, der Händler hätte versucht, das Gewicht der Seide durch Feuchtigkeit künstlich hochzutreiben.
Mit dem Geruch der Seide war Fygen zufrieden, dennoch rollte sie den Ärmel ihres Kleides hoch und grub den bloßen Arm bis weit über den Ellenbogen in den Packen hinein. Auf der empfindlichen Haut des Armes konnte sie die Feuchtigkeit besser spüren als zwischen zwei Fingern oder auf der Handfläche. Doch die Fäden hielten auch dieser Prüfung stand. Sie waren trocken und boten ihr keinen Anlass zu Beanstandungen.
»Ihr könnt die Packen wieder verschließen. Wie viele sind es zusammen?«, wandte sie sich an ihre Helferinnen.
»Vierzehn«, antwortete Ida.
»Gut. Ladet noch zwei weitere ab und stapelt sie hinten neben dem Regal auf. Den Rest soll der Fuhrknecht gleich zu den Spinnerinnen bringen. Tine, du begleitest ihn. Zwei Packen gehen zu Marie vom Hühnermarkt, drei zu Barbara Loubach, sie wohnt gleich neben Marie, und die restlichen vier Unter Scharren zu Gertrud Vurberg, du weißt ja, wo sie wohnt.«
Während Tine und Ida sich wieder an den Seidenbündeln zu schaffen machten, verließ Fygen die Werkstatt und ging die breite Stiege hinauf, die zum Wohntrakt im ersten Obergeschoss führte. Es war kurz vor Mittag, und sie verspürte bereits großen Hunger. Wenn sie sich
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