Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
für die Sitzung noch umkleiden wollte, würde nicht mehr viel Zeit für das Mittagsmahl bleiben. Missmutig brummte Fygen vor sich hin, und für einen kurzen Moment wünschte sie fast, das ehrenvolle Amt ablehnen zu können, weil sie mit ihrem eigenen Betrieb vollauf beschäftigt war. Doch anderen Seidmachern ging es nicht besser. Keiner ließ gerne die eigenen Aufgaben im Stich, um sich für die Belange der Zunft einzusetzen, das änderte auch das Präsenzgeld von vier Schillingen nicht, die jeder Amtsmeister für seine Anwesenheit erhielt. Und genau dafür hatte der Rat in weiser Voraussicht Vorsorge getragen mit der Verordnung, dass derjenige, welcher die Wahl zum Amtsmeister nicht annahm, bei der ersten Aufforderung eine Strafe von vier Schillingen zahlen sollte, beim zweiten Mal bereits acht Schillinge und beim dritten Mal eine Mark. Weigerte er sich auch noch bei der vierten Aufforderung, ging er seines Zunftrechts verlustig.
»Was brummst du denn so?«, fragte Peter gut gelaunt, als Fygen sich ihm gegenüber an dem großen Esstisch niederließ. Auch er hatte hungrig sein Kontor verlassen, um mit ihr zu speisen. Anstelle einer Antwort griff Fygen nach einem Kanten Brot und wartete, ungeduldig daran knabbernd, dass Maren das Mittagsmahl auftrug.
Die Tür sprang auf, doch statt der Magd mit Tellern und Platten hüpften drei fröhliche kleine Gestalten herein.
»Da sind ja meine Prinzessinnen«, begrüßte Peter seine Töchter liebevoll.
Es war nicht immer appetitlich anzusehen, wie die Kinder aßen, doch da sie den ganzen Tag über in der Werkstatt beschäftigt war, bestand Fygen darauf, ihre Töchter wenigstens zu den Mahlzeiten zu sehen. Die blasse, vierjährige Agnes setzte sich gesittet auf ihren Stuhl und legte die Händchen anständig rechts und links neben den Teller. Mit ihrer aufrechten Haltung, den wachen blauen Augen und dem leicht zur Seite geneigten Kopf erinnerte sie Fygen einmal mehr an die Großmutter der Kinder. Fygen hatte ihr Versprechen Augusta gegenüber eingehalten und die alte Dame zu den Tauffeierlichkeiten ihrer ältesten Tochter geladen. Die Geburt der beiden anderen Mädchen hatte die alte Dame leider nicht mehr erlebt.
Lisbeth, der Wirbelwind, sauste, so schnell sie es mit ihren drei Lenzen vermochte, auf ihren Vater zu und krabbelte ihm auf den Schoß. Herzhaft drückte Peter seine Jüngste an sich. Mit ihren kringeligen braunen Locken, die sich um das verschmitzte Gesichtchen ringelten, ähnelte sie ihrer Mutter am meisten. Und auch an Energie und Eigensinn stand Lisbeth Fygen in nichts nach, stellte Peter einmal mehr fest, als er unter ihrem lautstarken Protest versuchte, seine Tochter sanft, aber mit Nachdruck auf ihren eigenen Stuhl zu bugsieren. Sophie, mit fünf Jahren das älteste der Lützenkirchenschen Mädchen, kaute bereits an einem Stück Brot, das sie sich auf dem Weg zu ihrem Stuhl aus dem Korb geangelt hatte. Sie stützte das rundliche Kinn träge in beide Hände, die Ellenbogen lagen rechts und links neben dem Teller auf der Tischplatte.
»Sophie, setz dich manierlich hin, wie es sich für eine junge Dame gehört«, ermahnte Lijse sie, die hinter den Mädchen das Speisezimmer betreten hatte. Aufmerksam ruhte Fygens Blick auf dem fürsorglichen Gesicht der alten Frau. Sie musste bald an die sechzig Jahre alt sein, und diese Jahre hatten ihr tiefe Furchen in das weiche Fleisch um Mund und Nase gegraben. Ihre Haare waren ergraut, doch den aufmerksamen braunen Augen entging nach wie vor nicht eine winzige Kleinigkeit. Fygen schien es, als wäre Lijse mit der Zeit geschrumpft. War sie selbst schon nicht groß, so überragte sie die alte Frau doch um beinahe einen Kopf, und sie fragte sich, ob das schon immer so gewesen war. Die Arbeit ging der alten Haushälterin nicht mehr so schnell und flink von der Hand wie einst, doch Fygen war froh, dass Lijse nach dem Tod von Onkel Mathys den Weg nach Köln gefunden hatte. Nie würde sie den Schrecken und die Freude des Tages vergessen, an dem Lijse, ihre gute alte Lijse aus Kindertagen, plötzlich vor ihrer Tür gestanden hatte.
Es war ein windiger Spätsommertag gewesen, nicht lange nach ihrer Rückkehr aus London. Mit pikierter Miene hatte die hagere Hilda sie aus der Werkstatt gerufen: »Da ist eine Bettlerin an der Tür, die will einfach nicht gehen. Dabei habe ich ihr schon Brot und einen Schluck Keutebier gegeben.« Hilda schüttelte verständnislos den Kopf. »Die Alte hat sogar die Stirn zu behaupten, Euch zu kennen.
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