Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
nicht zum Besten stand. Sie bedauerte die frommen Frauen unendlich. Es war schlimm, wenn man Hunger litt, das wusste Fygen wohl. Und sie, Fygen, hatte weit mehr, als sie zum Leben benötigte.
Mit einem flehentlichen Blick aus ihren großen runden Augen schaute Hylgen sie so treuherzig und erwartungsvoll an, dass es Fygen einen Stich in die Brust versetzte. Was sollte sie machen?
»Gut, ich werde euch Seide zum Spinnen geben«, ließ sie sich erweichen, doch wohl war ihr nicht dabei. »Gib mir nur ein wenig Zeit, dann werde ich mir einen Weg einfallen lassen, wie wir es geheim halten können«, sagte sie.
Dann tat Hylgen etwas völlig Unerwartetes: Sie sprang auf, umrundete den Tisch, kniete vor der Freundin auf dem Boden nieder und umfasste ihre Rechte mit beiden Händen. »Danke! Oh, der Herr wird es dir vergelten! Danke dir!« Und noch ehe Fygen etwas hatte antworten können, berührte sie Fygens Rechte mit ihren Lippen und küsste sie.
Durch die Fastnachtstage hatte sich die Sitzung des Zunftvorstandes verschoben. Einige Tage später als geplant trafen sich die Mitglieder des Seidamtes im Haus Zur Roder Tür von Mertyn Ime Hofe auf der Obermarspforten, ganz in der Nähe von Lützenkirchens altem Wohnhaus Zum Rosenbaum. Katryn hatte ihr erstes, kleines Haus, das sie mit Mertyn bewohnt hatte, sehr geliebt, vor allem den schmucken roten Giebel. Und so hatte sie, als sie in ihr prachtvolles, neues Haus gezogen waren, kurzerhand die Eingangstür rot streichen lassen, was dem Haus den Namen gegeben hatte.
Der Hausherr selbst konnte an der Sitzung nicht teilnehmen, sondern ließ sich von seiner Frau vertreten, denn ein unerklärliches Fieber hatte von ihm Besitz ergriffen. Seit Tagen lag er matt und kraftlos in seinem Bett, klagte über Kopfschmerzen und verspürte keinerlei Appetit, ganz gleich welche Köstlichkeiten Katryn ihm auch hinauf in seine Stube bringen ließ.
Und so saß nun Johann Byrken mit Fygen, Katryn und Trude van Arnold zusammen in Mertyns Kontor, um sich den Angelegenheiten der Zunft zu widmen. Sichtlich genoss Byrken seine Rolle als einziger Mann am Tisch und schenkte den Damen unermüdlich Wein in die noch halb vollen Becher.
Zunächst wandte man sich den Fällen zu, die bei der vergangenen Sitzung nicht abschließend behandelt werden konnten. In der Angelegenheit der Seidmacherin Irma Bruwiler, welche die Seidspinnerin Barbara Loubach vom Hühnermarkt der Veruntreuung von Rohseide bezichtigte, hatte man die Damen vorgeladen. Und so saßen sie nun in Katryns Stube und warteten darauf, den hohen Damen und dem Herrn vom Seidamt ihre Sicht der Dinge vorzutragen, während der Vorstand zunächst die Qualität der fraglichen Seide in Augenschein nahm.
Das Garn war in der Tat minderwertig zu nennen. Es wies ungewöhnlich viele Verdickungen auf, und die Oberfläche war rauh und glanzlos. Fygen und Katryn erkannten auf den ersten Blick, dass der Grund dafür nicht etwa schlampige Arbeit der Spinnerin sein konnte, sondern eindeutig in der mangelhaften Qualität der Rohseide begründet war. Als Erstes wurde daher Irma Bruwiler in das Kontor geführt. Hoch erhobenen Hauptes, sich ihres Standes als Seidmacherin bewusst, baute sie sich vor den Anwesenden auf. Die Hände in die Hüften gestemmt und ohne überhaupt auf den Tatbestand einzugehen, forderte sie sofort anmaßend eine hohe Bestrafung für Barbara Loubach.
Fygen ließ sie eine Zeitlang reden, doch als sich ihr Wortschwall im Kreis zu drehen begann und sie immer wüstere Strafen auf das Haupt von Barbara Loubach forderte, wurde es ihr zu bunt. »Irma, wir haben jetzt, glaube ich, verstanden, was du willst. Doch lass mich dir eine Frage stellen: Hast du die Rohseide genau kontrolliert, bevor du sie an Barbara zum Spinnen weitergegeben hast?«
Irma schaute Fygen verblüfft an, und Fygen forschte weiter: »Hast du die Packen aufgemacht und genau geschaut, wie die Seide beschaffen war?«
»Nun, äh …« Irma wand sich. Ihre selbstbewusste Haltung bröckelte ein wenig. Nervös verschränkte sie ihre Hände ineinander, blickte unsicher in die Runde, und Fygen war sich sicher, auf der richtigen Fährte zu sein.
Doch dann fand Irma den Faden wieder. »Was soll das?«, belferte sie. »Steht hier meine Arbeit zur Debatte oder dieses unglaubliche …«
Bevor sie sich erneut in ihren Tiraden ergehen konnte, fuhr Fygen fort: »Von wem hast du die Seide gekauft?«
»Nun, äh …« Irma schwieg. Dies war eine Wendung der Angelegenheit, mit der sie
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