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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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in den Rat berufen werden würde.
    Doch den Gürtelmacher schien der Nachname nicht zu interessieren. »Herman, komm her zu mir!«, brüllte er laut in den Saal hinein. Und als hätten nicht längst alle Anwesenden von ihr Notiz genommen, fügte er hinzu: »Deine Mutter ist hier.«
    Mühsam erhob sich eine dünne, angeschlagene Gestalt von einer der Bänke. Herman hatte Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen. Sein Kopf wackelte hin und her, als er ganz langsam mit eckigen Bewegungen einen Fuß vor den anderen setzte. Plötzlich schien er zu merken, dass die Augen aller auf ihn gerichtet waren, und voller Scham lief sein Gesicht hochrot an. Die schlaksigen Arme verlegen hinter dem Rücken verknotet, torkelte er langsam auf Hemmersbach und seine Mutter zu.
    Der Junge stank nach Alkohol, und Fygen musste sich sehr zusammennehmen, um beim Anblick ihres betrunkenen Sohnes Haltung zu bewahren. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, packte sie Herman am Ohr. Sie wusste, dass es ihn schmerzen würde, doch das scherte sie ganz und gar nicht. Unter dem Gejohle und allerlei gutmütigem Spott der Aufständler zerrte sie den schwankenden Herman durch den Senatssaal, zur Tür hinaus und die Treppe hinab. Erst als sie das Rathaus verlassen hatten, gab sie sein Ohr frei und packte ihn am Arm, damit er nicht das Gleichgewicht verlieren würde und auf den gefrorenen Boden stürzte. So bald würde er nicht in das Rathaus zurückkehren, da war Fygen sicher.
    Wortlos rieb Herman sich das schmerzende Ohr. Doch dieser Schmerz war nicht der schlimmste, den er an diesem Tag zu erleiden hatte.
    Lijse brauchte nur einen kurzen Blick auf ihren Schützling zu werfen, um die Situation zu erfassen. »Psst, seid leise«, mahnte sie und legte den Zeigefinger auf den Mund. Bange hatte sie neben der Tür auf Fygens Rückkehr gewartet. »Bring ihn in die Küche. Aber um Himmels willen, sei leise!«, beschwor sie Fygen. »Peter ist zurückgekommen.«
    Lijse hatte recht. Es würde Herman schlecht bekommen, wenn er in diesem Zustand seinem Vater unter die Augen treten würde.
    »Wo ist er?«, flüsterte Fygen.
    »In seinem Kontor«, erwiderte Lijse leise, und gemeinsam schleppten die beiden Herman mehr, als sie ihn führten, den Flur entlang zur Küche, bemüht, kein unnötiges Geräusch zu machen.
    Doch sie waren wohl nicht leise genug gewesen, denn nur wenige Augenblicke später, als sie gerade dabei waren, den Jungen auf die Bank am Ofen zu setzen, flog die Tür auf, und der Hausherr persönlich stand im Rahmen.
    »Habe ich doch richtig gehört!« Fröhlich schritt er auf Fygen zu, um seine Frau zur Begrüßung herzlich in die Arme zu schließen, als er der schwankenden Gestalt seines Ältesten ansichtig wurde. Er roch Hermans alkoholschwangere Ausdünstungen, und die Wiedersehensfreude verschwand aus seinem Gesicht. Sofort griff er nach dem schweren hölzernen Wassereimer, der neben dem Ausguss stand. Ohne weiteres Zaudern leerte er den ganzen Eimer kalten Wassers über seinem Sohn aus und dann, ohne dass er das gesamte Ausmaß von Hermans Vergehen kannte, verabreichte er ihm eine Tracht Prügel, die der Junge zeitlebens nicht vergessen würde.

    Am Aschermittwoch war alles vorbei. Zwei Tage lang hatte sich Gürtelmacher Hemmersbach als Herr der Stadt fühlen können. Zwei Tage lang hatten Zünfte und Gaffeln seinem Treiben zugeschaut, hatten all ihre Bälle und Vergnüglichkeiten abgesagt und sich heimlich hinter verschlossenen Türen getroffen und beratschlagt. Dann, am Morgen des Aschermittwochs, hatten sie ihre Entscheidung getroffen.
    Es war ein grauer, trüber Tag, welcher der letzte des Johann Hemmersbach und seiner Mitstreiter werden sollte. Als die Arbeiter und Handwerker ihre Arbeiten wiederaufnahmen, die Frommen in die Kirchen strömten, um für ihre Sünden der letzten Tage vom Herrgott Ablass zu erbitten, und diejenigen, die zu tief in die Becher geschaut hatten, ihren Rausch ausschliefen, fand sich Hemmersbach schließlich allein mit einer Handvoll Getreuer auf den Zinnen des Rathauses.
    Den gut bewaffneten, ausgeruhten Männern der Gaffeln, die in Harnisch und Helm das Rathaus stürmten, hatten sie nichts entgegenzusetzen. Rasch machte man kurzen Prozess, befreite die Bürgermeister und Ratsherren aus der Gewalt der Aufrührer, und noch am selben Tag rollten die Köpfe des Gürtelmachers und seiner Kumpane in den Staub des Heumarktes.

    Beinahe so als wäre nichts geschehen, ging die Stadt zu ihren Tagesgeschäften über. Fygen trat eben aus

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