Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Schule wieder einmal durch die Stadt gestreift war. Doch nach der Beinahekatastrophe an Fastnacht vor nun bald einem Vierteljahr hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen. Und Fygen erinnerte sich noch gut daran, wie sie selbst, als sie in Hermans Alter gewesen war, jede freie Minute dazu genutzt hatte, die Stadt zu erkunden. Scharf fasste sie ihren Sohn ins Auge. Seine Arme ragten schon wieder aus den Hemdsärmeln heraus, Herman war erneut ein Stück gewachsen. Wenn er so weitermachte, würde er eines Tages sogar noch Peter überragen. In letzter Zeit schien Herman die Schule zu langweilen, das hatte Fygen wohl bemerkt. Es wurde allmählich Zeit, dass er etwas Handfestes erlernte.
Nein, solch ein seltsames Tier hatte sie wirklich noch nicht gesehen, musste Fygen ihren Töchtern auf dem Heimweg immer und immer wieder versichern. Aufgeregt sprangen Sophie und Agnes um sie herum, während Lisbeth auf ihrem Arm munter krähte. Es war wirklich ein vergnüglicher Ausflug gewesen. Fygen selbst hatte über das große graue Tier mit den riesigen Ohren und den winzigen Äuglein gestaunt. Einzig Herman hatte sich getraut, es anzufassen, und behauptete nun, die kurzen schwarzen Haare, die vereinzelt auf der knittrigen Haut des Tieres wuchsen, fühlten sich an wie fester Draht.
»Bring die Mädchen nach Hause, hörst du?«, übertrug Fygen Herman die Verantwortung und setzte Lisbeth auf dem Boden ab. Sie hatten das Haus Zur Roder Tür erreicht, und Fygen beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, Katryn einen Besuch abzustatten. Es gab ein paar Dinge, die sie mit der Freundin zu besprechen hatte.
»Dora ist vor ein paar Wochen niedergekommen. Was wird nun mit dem Kind?«, fragte Fygen, als sie wenig später mit Katryn in deren elegant eingerichteter Wohnstube saß. Der hohe, freundliche Raum war verkleidet mit geschnitzten, aber nicht düster wirkenden Wandtäfelungen. Die beiden Frauen hatten es sich auf ihren weich gepolsterten Stühlen mit fein bestickten Überzügen gemütlich gemacht und genossen gemeinsam einen guten Wein.
»Was soll mit dem Kind sein?«, fragte Katryn ein wenig gereizt zurück.
»Willst du es denn nicht aufnehmen und großziehen? Schließlich ist es Mertyns Sohn.«
»Danke, aber wir haben schon einen Sohn.«
»Herrgott, Katryn! Das Kind kann doch nichts dafür. Du hast nur einen Sohn. Und so wie es aussieht, wirst du auch keine weiteren Kinder bekommen. Der kleine Tim würde sich sicherlich über ein Brüderchen freuen. Und dem Kind tust du etwas Gutes und seiner Mutter auch.«
»Aber er wird mich immer daran erinnern, dass Mertyn …« Ihre Stimme brach, und sie begann zu schluchzen.
Beruhigend legte Fygen den Arm um die Freundin und streichelte ihr sanft über den Rücken. Als Katryn sich ein wenig gefasst hatte, sagte sie: »Sieh es so: Nur weil dein Mann einen Fehler gemacht hat, musst du nicht auch einen machen. Indem ihr den Kleinen aufnehmt, hat Mertyn die Möglichkeit, etwas von seiner Schuld wieder abzutragen. Und du tust ein gutes Werk an einem Kind, das sonst wenig Chancen im Leben hätte. Ihr seid wohlhabend genug, um es dem Kind an nichts fehlen zu lassen.«
Katryn wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte tapfer. »Gut, bring ihn in ein paar Wochen her, wenn er kräftig genug ist.«
»Ich wusste, dass du das Richtige tust!«, sagte Fygen. »Ich würde gerne noch mit Mertyn sprechen.«
»Was hast du denn mit ihm zu bereden?«, fragte Katryn, und ihre Stimme erklomm wieder gefährliche Höhen.
»Ich will ihn fragen, ob er Herman in die Lehre nehmen möchte. Es wird Zeit, dass der Junge das Kaufmannsgewerbe lernt.«
»Nichts lieber als das«, ertönte Mertyns tiefe, wohlklingende Stimme von der Tür her. Eben hatte Katryns Mann die Stube betreten und Fygens letzte Worte vernommen. »Doch warum lernt er nicht bei Peter?«
Fygen blickte Mertyn an. Er hatte sich von seiner Krankheit offenbar gut erholt, lediglich der unansehnliche Ausschlag im Gesicht und an den Händen war nicht gewichen. Ehrlich erklärte sie: »Nun, Peter und Herman passen nicht so recht zueinander. Peter hat wenig Geduld mit dem Jungen. Ich bin sicher, es wäre eine Quelle endlosen Ärgers, wenn Herman und Peter den ganzen Tag beieinander wären.«
»Da magst du recht haben.« Mertyn lachte, da er die beiden gut genug kannte. »Schick mir den Jungen, sobald du magst. Wir werden schon einen patenten Kaufmann aus ihm machen.«
»Dass du auch ja gut achtgibst und meine Stoffe nicht mit anderen
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