Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
»Und dafür betreibst du solch einen Aufwand?«, hatte sie gefragt.
»Das ist doch erst der Anfang, wir züchten ja die nächsten Generationen selbst heran«, hatte Herman ihr eifrig erklärt und das Päckchen wieder sorgsam eingeschlagen, denn die Eier mussten kühl gehalten werden.
Jetzt im Mai trieben die Maulbeerbäume aus, und es war an der Zeit, die Raupeneier auszulegen. Morgen früh würde Herman nach Rheinbach reisen und sich an die Arbeit machen. Fygen musste sich eingestehen, dass sie schon ein wenig neugierig darauf war, wie die Raupenzucht vonstattenging.
Wieder sog sie tief die warme Luft ein und blickte ein wenig sehnsüchtig in den Hof hinaus. Alles Grün, was sie hier zu sehen bekam, waren die Apfelbäume in ihrem Hof. Das war weit mehr, als die meisten Stadtbewohner täglich erblickten, aber es wäre dennoch schön, eine Zeit auf dem Land zu verbringen, kam es Fygen in den Sinn. Warum sollte sie Herman nicht einfach begleiten? Die Werkstatt käme sicher eine Zeitlang ohne sie aus, und auch Peter könnte gewiss ein paar Tage ohne ihre Hilfe zurechtkommen.
Fygen bereute ihre Entscheidung nicht. Es war eine schöne Reise. Die Maisonne schien angenehm warm den ganzen Tag über, und die Wege waren trocken, doch noch nicht zu staubig. Es war bereits deutlich nach Mittag, als der Wagen auf eine ausgedehnte Pflanzung zurollte. In langen, ordentlichen Reihen wuchsen die kräftigen, inzwischen siebenjährigen Maulbeerbäume. Der Wagen rumpelte auf ein paar neue, lang gezogene, teils grob gezimmerte Gebäude zu: Schuppen für die Aufzucht der Raupen. Vor dem letzten, bei weitem dem kleinsten Schuppen, hielt Herman den Wagen an und half seiner Mutter auszusteigen. Fygen reckte die Glieder. Die Reise war nicht anstrengend gewesen, doch sie war das Gerumpel und das lange Stillsitzen einfach nicht gewöhnt. Herman stieß die Tür zu dem kleinen Schuppen auf und ließ seine Mutter eintreten. Das Gebäude war einfach, aber Fygen fand es gemütlich. Außer der Stube mit Tisch, ein paar Stühlen und einem Ofen gab es noch zwei weitere kleine Kammern mit je einer Bettstatt. Beschwingt stellte sie ihr Bündel auf dem groben Holzboden ab. Hier würde sie sich für ein paar Tage sicher sehr wohl fühlen.
Nachdem Fygen sich am Brunnen hinter der Hütte ein wenig erfrischt hatte und zurück in die Stube kam, wunderte sie sich, dass sich Herman trotz des warmen Wetters darangemacht hatte, im Ofen ein Feuer anzufachen.
»So alt und gebrechlich bin ich doch noch nicht, dass du für mich den Ofen einheizen musst«, sagte sie lächelnd ob seiner Fürsorge.
»Das Feuer zünde ich nicht deinetwegen an«, antwortete Herman lachend. »Obwohl wir es heute Nacht sicher sehr wohlig warm haben werden. Es ist wegen der Raupen. Sie brauchen gleichmäßige Wärme, um zu schlüpfen.« Vorsichtig öffnete er das Paket und entleerte die Eier liebevoll auf eine flache Schale. Dann stellte er diese gut drei Schritt vom Ofen entfernt auf den Boden und betrachtete sie zufrieden.
Fygen fand wenig Gefallen an der Vorstellung, dass just in der Nähe der Bettstatt, in der sie zu schlafen gedachte, eine wimmelnde Menge Raupen schlüpfen sollte. Was, wenn sich die Tiere auf Wanderschaft begeben, ihre Schale verlassen und vielleicht – nein, sicherlich – ausgerechnet zu ihr ins Bett krabbeln würden? Sie warf ihrem Sohn einen schiefen Blick zu. Der Gedanke war ihm wohl noch nicht gekommen, und wenn doch, so war Fygen sicher, dass Herman diese Vorstellung nicht stören würde, so verzückt, wie er seine glibberigen Schützlinge betrachtete. Wie schnell krabbelten Raupen? Würden sie es in einer Nacht bis zu ihrem Bett schaffen?
Stell dich wegen ein paar Raupen nicht so an, rief Fygen sich zur Ordnung. Herman war so versessen auf die Seidenwürmer, dass er sie sicherlich genau beobachten würde. Sie bekämen wahrscheinlich gar keine Gelegenheit auszubüxen.
Mit ihrer Einschätzung hatte Fygen recht. Herman wachte beinahe die ganze Nacht neben der Schale. Achtete darauf, dass das Feuer nicht erlosch und die Temperatur in der Hütte gleichmäßig blieb. Fygen schlief tief und traumlos, und als sie am Morgen erwartete, eine von Raupen wimmelnde Hütte vorzufinden, wurde sie zum Glück enttäuscht.
Herman hatte, um die Temperatur für die Eier langsam zu erhöhen, die Schale näher an den Ofen herangerückt. Die graue Masse schien größer geworden zu sein und sich ausgebreitet zu haben, aber geschlüpft waren die Raupen noch nicht.
Es
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