Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Fressgier zügelte das keineswegs. Mehr und mehr Blätter mussten Fygen und Herman täglich heranschaffen, um die gefräßige Sippschaft zufriedenzustellen.
Nach fünf weiteren Tagen wiederholte sich das Häuten.
»Wohin wollen die Biester denn noch wachsen?«, rief Fygen aus, als sich die Raupen abermals daranmachten, ihre Haut abzustreifen.
»Sie häuten sich viermal, bevor sie sich einspinnen«, erklärte Herman seiner Mutter amüsiert. »Und ein letztes Mal, bevor sie den Kokon verlassen.«
»Aber das dauert dann ja noch Wochen, bis sie fertig sind«, stellte Fygen fest.
»Insgesamt fressen sie fünfunddreißig bis vierzig Tage lang«, sagte Herman lachend wie ein stolzer Papa, der den gesunden Appetit seines Sohnes lobt.
Fygen war ein wenig enttäuscht. Sie hatte nicht beabsichtigt, so lange bei Herman zu bleiben. Andererseits wollte sie zu gerne miterleben, wie die gefräßigen Biester sich verpuppten und schließlich als Seidenspinner wiedergeboren wurden. Doch ein paar Tage würden sie zu Hause sicher noch ohne sie zurande kommen, entschied Fygen und beschloss, noch zu bleiben.
Gut vier Wochen waren vergangen, seit die ersten winzigen Raupen geschlüpft waren, ihre vierte und letzte Häutung lag nunmehr zehn Tage zurück. Immer und immer wieder hatte Fygen ihre Abreise hinausgeschoben, weil sie unbedingt erleben wollte, wie die Raupen sich einspinnen würden. Die Seidenraupen waren nun vollständig ausgebildet. Längst hatte Herman Helfer aus dem nahen Dorf angestellt, die ihnen beim Pflücken und Zerkleinern der Blätter halfen. Allein waren Fygen und er nicht mehr in der Lage, die immer größer werdenden Mengen herbeizuschaffen, um die Tiere satt zu bekommen.
Als Fygen mit einem Korb voller Grün in den Schuppen trat, beschlich sie das Gefühl, etwas sei nicht richtig. Doch ihr war nicht klar, was es war. Irgendetwas fehlte. Fygen schaute sich um. Doch es war alles still. Sorgfältig leerte sie ihren Korb in eine große Steige, und dann wusste sie plötzlich, was es war. Die Stille. Das Schmatzen, das seit Wochen das Fressen der Raupen begleitet hatte, war verstummt. Die Tiere hatten aufgehört zu fressen. Fygen erschrak zutiefst und rannte hinaus, um Herman herbeizuholen.
Doch der warf nur einen kundigen Blick auf seine Schützlinge, die begonnen hatten, unruhig umherzukriechen und den Vorderleib in die Höhe zu recken, und nickte zufrieden. Sogleich machte er sich daran, ihnen Reisig und Ginster hinzustellen, die er für diesen Moment bereits in Körben bereithielt.
Fygen ließ die Tiere nun nicht mehr aus den Augen. Sie beobachtete, wie die Raupen die Reisigzweige erklommen. Zielstrebig suchten sie geeignete Stellen wie Verästelungen oder Verdickungen, an denen sie ihr Gespinst anheften konnten. Um erkennen zu können, was nun geschah, beugte Fygen sich vor und fasste eines der Tiere genau ins Auge. Die Raupe sonderte aus ihrem winzigen Spinnrüssel einen klebrigen Faden ab, in den sie begann, sich einzuwickeln. Der Faden war so klebrig, dass er an sich selbst haftete. Die Raupe bildete so zunächst ein lockeres Gespinst um sich herum, innerhalb dessen sie begann, eine feste, taubeneigroße Hülle zu schaffen.
Es war ein hübscher Anblick, als sich nach vier Tagen alle Raupen fertig eingesponnen hatten und die weißlichen Gespinste wie Knospen überall auf den Reisigbündeln saßen.
In diesen Kokons würden sie nun die nächsten zwei bis drei Wochen damit zubringen, sich in eine Larve zu verwandeln, wenn man sie ließe. Doch nur einem Teil der Kokons würde dieses Glück zuteilwerden. Herman beabsichtigte, dreieinhalbtausend weibliche und die entsprechende Menge männliche Kokons für die Zucht heranwachsen zu lassen. Diese würden die vierfache Menge der Eier hervorbringen, die Herman aus Italien mitgebracht hatte.
Fygen fand, das war ein sehr ehrgeiziges Ziel, und die Maulbeerbäume hatten bereits sichtlich Laub gelassen. Sie versuchte, Herman davon zu überzeugen, es zunächst nur mit der doppelten Menge zu versuchen, schließlich hätte er keine Eile, doch Herman war so begeistert von seinem bisherigen Erfolg, dass er den Warnungen seiner Mutter keine Beachtung schenkte.
Also machten Herman, Fygen und ihre Helfer sich daran, alle Kokons vorsichtig einzusammeln und zu sortieren. Männliche Kokons ließen sich leicht an ihrer Einschnürung in der Mitte erkennen. Und während die Größten und Kräftigsten für die Zucht verwendet wurden, sahen alle anderen einem vorzeitigen Tod
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg