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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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die Gegenwart zurückzubringen. »Selbstverständlich werde ich den Betrag sofort anweisen«, antwortete er. »Bis morgen wird die Schuldigkeit erledigt sein.«

6. Kapitel
    F ygen stand am Fenster in ihrem Kontor und sog tief die warme Luft ein, die der Wind von den Weinfeldern und Gärten hinter St. Peter zu ihnen heranwehte. Sie war getränkt mit jenem unverwechselbaren Duft, der hoffen ließ, dass der Winter nie zurückkehren mochte, der das Versprechen auf einen nahen Sommer barg. Wieder ein Frühjahr, das zweite seit Lisbeths Hochzeit. Zwei lange Jahre waren seitdem vergangen. Ruhige Jahre, gute Jahre. Sophie hatte ihren Entschluss, eifrig zu arbeiten, ernst genommen und überraschenderweise noch im selben Jahr ihre Prüfung vor dem Seidamt abgelegt. Kurz darauf hatte sie dann Hans Heere geheiratet. Der junge Mann war Geselle der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft und führte, obwohl er Bürger von Köln war, in Antwerpen die Rechnung, was bedingte, dass er häufig in Flandern weilte. Fygen glaubte nicht, dass der blasse, ein wenig behäbige Mann in Sophie große Gefühle zu erwecken vermochte, aber ihre Älteste schien mit dieser Ehe recht zufrieden zu sein, zumal Hans über genug ererbtes Vermögen verfügte, um ihr ein angenehmes Leben zu ermöglichen.
    Sophie hatte sich, mehr weil man es von ihr erwartet hatte denn aus echtem Interesse, als Seidmacherin eintragen lassen, einen Webstuhl angeschafft und eine Lehrtochter eingestellt. Doch mit der Hochzeit war all ihr Arbeitseifer verflogen. Sophie war wieder dazu übergegangen, das zu tun, was sie immer schon getan hatte: keine großen Anstrengungen zu unternehmen und friedlich in den Tag hineinzuleben, so dass die Weberei ohne rechten Erfolg vor sich hin dämmerte.
    Als auch Sophie das Elternhaus verlassen hatte, war es ruhig geworden in der Wolkenburg. Agnes brachte mit schöner Regelmäßigkeit und ohne Anzeichen von Schwierigkeiten jeden Winter einen weiteren, kleinen, goldigen Imhoff zur Welt. Nach Andreas, dem Jüngeren, Katharina, benannt nach Katryn, Agnes’ Taufpatin, Peter, Sophie und Lazarus war im Februar die kleine Magdalena geboren worden.
    Lisbeth und Tim arbeiteten eifrig daran, ihre Seidenweberei und den Handel aufzubauen und schienen sehr glücklich miteinander zu sein.
    Peters Handelsgeschäfte liefen ruhig, aber erfolgreich. Nach wie vor vertrat er die Große Ravensburger Handelsgesellschaft in Köln, und seit gut einem Jahr war er, durch die Vermittlung seines Schwiegersohnes Andreas, zudem Faktor der Vöhlin-Welser-Gesellschaft. Auch Fygens Seidenweberei lief nahezu reibungslos und sehr gewinnbringend, so dass sie einen Teil ihrer Zeit damit verbringen konnte, Peter in der Faktorei zu helfen.
    Nein, Fygen konnte sich wirklich nicht beschweren. Es war ein friedliches Leben. Beinahe zu friedlich, fast schon ein wenig langweilig, dachte Fygen. Der Einzige, der ab und an ein wenig Leben ins Haus brachte, war Herman mit seiner an Besessenheit grenzenden Leidenschaft für seine Seidenraupenzucht.
    Zwei Jahre standen die Maulbeerbäumchen nun auf Hermans Äckern, hatten sich gut eingelebt, wuchsen und gediehen, denn sie hatten außer dem Seidenspinner keine Feinde oder Schädlinge. Zwei Jahre, in denen sie gehegt und gegossen wurden und ungestört wachsen durften. Doch die Zeit dieses pflanzlichen Glückes näherte sich nun ihrem Ende. Es wurde Zeit, dass die Bäume begannen, ihrer Aufgabe nachzukommen: Blätter zu liefern für hungrige Seidenraupen. In der vergangenen Woche war Herman von seinem Besuch bei Alberto Pezzi in Lucca zurückgekommen, im Gepäck ein kleines, in feuchte, kühlende Tücher gewickeltes Päckchen. Stolz hatte er die Verpackung geöffnet und Fygen den Inhalt gezeigt: eine schiefergraue, glitschig aussehende Masse, in der hier und da winzige, blassgelbe Sprenkel zu erkennen waren. Ein wenig enttäuscht hatte Fygen auf die Raupeneier geblickt. Was sollte schon aus so einem kleinen, armseligen Häufchen werden?
    »Siehst du die Farbe?«, hatte Herman seine Mutter voller Begeisterung gefragt. »Die grauen Eier sind alle befruchtet, die blassgelben unbefruchtet. Und das sind nur wenige. Aus einer Unze Eier erhält man um die siebzig Pfund Kokons, das sind achtzehntausend Stück. Und daraus wiederum kann man sechs Pfund Rohseide abhaspeln«, hatte Herman ihr vorgerechnet.
    Das Päckchen mochte so um die zehn Unzen enthalten, hatte Fygen geschätzt und überschlagen, dass daraus sechzig Pfund Rohseide zu erwarten waren.

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