Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
dauerte noch bis zum Nachmittag. Dann verfärbten sich die Eier violettblau und wurden schließlich weiß. Herman wurde ganz aufgeregt. »Gleich, gleich ist es so weit«, sagte er und starrte wie gebannt auf die Eier. Und wirklich, erst kam hier, dann da, dann dort ein wenig Bewegung in die Masse. Dunkelbraune, winzige Raupen tauchten aus ihr hervor, sie begannen zu schlüpfen: Die erste Generation von Hermans Seidenraupen erblickte das Licht der Welt.
Es wurden immer mehr, sie wimmelten, krochen, drehten sich durcheinander. Die ganze Schale verwandelte sich in einen einzigen nussbraunen, sich windenden Klumpen. Schon krochen die ersten Raupen über den Rand der Schale hinaus.
»Zeit zum Füttern!«, rief Herman, nahm die Schale sorgfältig auf und trug sie vorsichtig vor sich haltend zur Stubentür hinaus.
Fygen folgte ihm neugierig in den ersten der länglichen Schuppen. In der Mitte des luftigen Raumes befanden sich große, etwa hüfthohe, hölzerne Gestelle, auf denen lose Holzplatten lagen. Sie maßen vielleicht einen Schritt im Karree. Vorsichtig griff Herman in die Schale und verteilte einen Teil der winzigen Raupen gleichmäßig auf der Platte. Dann ging er zum nächsten Gestell, legte einen weiteren Teil aus und so fort, bis er am Ende des Schuppens angelangt und die Schale geleert war.
Erst jetzt sah Fygen die viereckigen Hürden, die an einer Wand des Schuppens lagerten. Es waren einfache Rahmen, aus Weidenruten gefertigt, in etwa so groß wie die Holzplatten auf den Gestellen und sorgfältig bespannt mit grobmaschiger Gaze. Herman stellte die leere Schale auf einem Tisch ab und nahm eine der Hürden auf. Vorsichtig, um keines der kostbaren Tiere zu verletzen, setzte er die Hürde auf die erste Platte, so dass die Gaze die Raupen bedeckte. Dann holte er einen der Weidenkörbe voller Maulbeerbaumblätter, die Fygen und er den Morgen über gepflückt und grob zerkleinert hatten. Gleichmäßig verteilte er nun ein paar Pfund Blätter auf der Gaze, und Fygen konnte gar nicht so schnell schauen, wie die hungrigen Raupen durch die Maschen der Gaze auf die Blätter schlüpften und begannen, sich an dem frischen Laub gütlich zu tun.
So fuhr Herman fort, bis alle Raupen zu fressen hatten. Fygen glaubte, schmatzende, kauende Geräusche zu hören, doch das bildete sie sich vermutlich ein.
In den folgenden Tagen entwickelten die Raupen einen regen Appetit und wollten regelmäßig gefüttert werden. Herman und Fygen streiften den ganzen Tag über durch die Anpflanzungen und pflückten Blätter für ihre hungrigen Schützlinge. Reihe für Reihe liefen sie durch die Anpflanzung und nahmen von jedem Baum eine gute Handvoll, legten sie in einen Korb und gingen weiter zum nächsten Baum.
»Es ist wichtig, dass die Bäume groß und stabil genug sind, bevor man mit der Zucht der Raupen beginnt«, erklärte Herman. »Damit sie es vertragen, wenn man sie ihrer Blätter beraubt. Ein fünfjähriger Baum liefert um die sechsunddreißig Pfund Blätter, ein zwanzig Jahre alter schätzungsweise zweihundert Pfund. Unsere Bäume sind schon recht erwachsen, dennoch will ich vermeiden, sie vollständig zu entlauben. Wir pflücken deshalb gleichmäßig immer von allen Bäumen nur einen Teil der Blätter ab.«
Mit den gefüllten Körben ging es sogleich in den Schuppen, wo Tausende hungriger Mäuler auf sie zu warten schienen. Fygen hatte sich nicht getäuscht. Sie schmatzten tatsächlich. Und je größer sie wurden, desto lauter und ungehobelter wurden ihre Fressgeräusche. Dennoch waren Seidenraupen heikel. Sie waren empfindlich gegen Temperaturschwankungen und Luftfeuchtigkeit. Ganz wichtig war Sauberkeit. Undenkbar, dass sie lange in den abgenagten Blattresten verbleiben konnten. Kaum waren die Blätter zu einer unansehnlichen, braunen Menge zusammengefressen worden, als Herman über die Hürde eine neue setzte und frische Blätter darauf verteilte. Sobald die Raupen voller Gier zu der verlockenden Mahlzeit weitergewandert waren, konnte die Hürde mit den abgefressenen Blattresten darunter fortgenommen werden.
Fygen genoss die friedliche, ungestörte Arbeit an der frischen Luft. Abends fiel sie müde ins Bett und schlief bis zum Morgengrauen, um erfrischt wieder an die Arbeit zu gehen.
Sechs Tage nachdem die Raupen geschlüpft waren, hatten sie derart an Umfang zugenommen, dass ihnen ihre Haut zu eng wurde. Sie riss auf, und die Tiere krabbelten daraus hervor wie aus einem zu klein geratenen Kleidungsstück. Doch ihre
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