Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Schale aus und stopfte es sich in den Mund. Noch kauend umarmte er seine Mutter zum Abschied und war auch schon durch die Küchentür entschwunden.
Genüsslich angelte Fygen sich noch ein Stück Brot und belegte es mit einer dicken Scheibe geräucherter Wurst. Sie würde in Ruhe zu Ende frühstücken, und da sie schon so früh auf war, auch an ihre Arbeit gehen. Durch die Hochzeitsvorbereitungen waren in den vergangenen Tagen einige Dinge liegengeblieben. Vor allem um das Anmahnen säumiger Schuldner würde sie sich kümmern müssen, diejenige unter ihren Aufgaben, die sie am meisten verabscheute. Sie hasste es, von den Schuldnern hingehalten und mit hohlen Versprechungen abgespeist zu werden. Sie lieferte pünktlich ihre Ware, da sollten die Käufer auch beizeiten in der Lage sein zu zahlen. Besonders ärgerte es sie, wenn sie merkte, dass man ihr frech in das Gesicht log, behauptete, man hätte bereits gezahlt, oder vorgab, zurzeit wirklich beim besten Willen nicht zahlen zu können. Nächste Woche aber würde man ganz bestimmt bezahlen, das wäre doch sicher kein Problem, schließlich kenne man einander seit langem …
Oh, schon der Gedanke an diese Ausflüchte ließ Fygen die Zornesröte ins Gesicht schießen. Seufzend legte sie das Brot aus der Hand und erhob sich von ihrer Bank. Ihre Laune hatte sie sich nun selbst verdorben, dann konnte sie sich auch direkt an die unerfreuliche Arbeit machen.
Der weitaus größte offene Posten war der von Nikasius Hackenay, dem Rechenmeister von Kaiser Maximilian, der für das neue Palatium am Neumarkt eine große Menge edelster Seidenstoffe bestellt hatte. Bereits zweimal hatte sie ihn schriftlich um Begleichung der noch ausstehenden Rechnung gebeten, jedoch bisher ohne Erfolg. Natürlich wieder einmal die hohen Herren. Strotzten nur so vor Geld, schwelgten in den edelsten Preziosen, aber wenn es ans Bezahlen ging, drückten sie sich wie der raffgierigste Kaufmann, dachte Fygen verstimmt. Abrupt hielt sie inne. Sie würde gar nicht erst in ihr Kontor gehen, sondern den Rechenmeister persönlich in seinem Hof am Neumarkt aufsuchen, um ihn an die offenen Zahlungen zu gemahnen, entschied Fygen. Sie fühlte sich just in diesem Moment streitlustig genug, um es auch mit diesem größten aller Zahlenfüchse aufzunehmen. Sie war schon beinahe an der Tür zum Hof angelangt, als ihr gerade noch rechtzeitig einfiel, dass es wohl einen seltsamen Eindruck hinterlassen würde, wenn sie in Nachtgewand und Umhang bei Hackenay erscheinen würde. So eilte sie zurück und die Treppe hinauf in ihre Kammer, um sich anzukleiden, bevor sie das Haus verließ.
Eine hohe Mauer schirmte den königlichen Hof vom geschäftigen Treiben auf dem Neumarkt ab, und Fygen trat durch den Bogen des Hoftores in einen großzügigen Vorhof hinein. An drei Seiten wurde er umschlossen von den Mauern des Hauses, die von Zinnen und Eckwarten geschmückt wurden. Die beiden Flügel des Hauses trugen wappenverzierte, dreiseitige Erker, und auf einem Schlussstein erkannte Fygen das Hackenaysche Wappen mit dem springenden Ross. Im Winkel zwischen Hauptgebäude und dem rechten Flügel erhob sich ein schlanker, gut hundert Fuß hoher Turm, dessen Spitze an einen luftigen Helm gemahnte.
Beim Anblick des Wappens und des Turmes fiel Fygen die Sage der Richmodis von Aducht ein. Vor gut ein und einem halben Jahrhundert gehörte das Haus Zum Papagei, gleich gegenüber, Mengis von Aducht. Dessen junge Frau Richmodis erlag nach kurzer Krankheit dem Schwarzen Tod und wurde eiligst mit all ihrem Schmuck, unter anderem dem besonders kostbaren Trauring, auf dem Friedhof von St. Aposteln beigesetzt. Den Totengräbern aber hatte dieser Ring besonders gefallen, und so machten sie sich des Nachts daran, die schwere Grabplatte von Richmodis’ Grab zu heben. Als sie jedoch versuchten, der Toten den Ring vom Finger zu ziehen, schlug diese die Augen auf und schickte sich an, aus ihrem Grab aufzustehen. Die Grabräuber bekamen es mit der Angst, glaubten, sie hätten einen Geist vor sich, und eilten davon. Richmodis aber stand auf und machte sich, bekleidet mit ihrem Totenhemd, auf den Weg nach Hause. Ihr Mann öffnete die Tür, doch auch er wurde von Angst gepackt und sagte: »Ehe ich glauben wollte, dass Richmodis noch am Leben ist, müssten wohl meine besten Gäule die Stiege hinaufkommen, um mich zu rufen.« Doch kaum hatte er die Worte gesprochen, als schon auf der schmalen Wendeltreppe zum Söller das Klappern der Hufe seiner Gäule
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