Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
erscholl. Da öffnete Mengis die Tür und schloss überglücklich seine von den Toten errettete Frau in die Arme. Zum Dank und der Erinnerung ließ Mengis am Turm seines Hauses zwei steinerne Pferdeköpfe anbringen, hieß es.
Fygen hatte gerade den Vorhof betreten, als sie auch schon von einem adrett gekleideten Bediensteten abgefangen wurde, der mit herablassender Miene nach ihrem Begehr fragte. Fygen zögerte einen Moment. Wenn sie jetzt die offene Rechnung erwähnte, würde sie nie zu Hackenay vorgelassen werden. Sie schenkte dem Bediensteten ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es nicht vor Sarkasmus troff, und antwortete: »Es ist eine persönliche Angelegenheit.« Schließlich hatte sie sich ganz persönlich über Hackenays Säumnis geärgert.
Der Bedienstete blickte ein wenig verwundert drein, entschied sich aber dann doch dafür, ihr Glauben zu schenken. »Wenn ich Euch dann nach Eurem Namen fragen dürfte?«
»Lützenkirchen. Fygen Lützenkirchen«, antwortete Fygen mit Nachdruck.
Der Hofmeister zog beinahe unmerklich die schmalen Augenbrauen hoch, doch ohne ein weiteres Wort geleitete er sie in einen kleinen, aber prächtig ausgestatteten Empfangsraum in der Nähe des Eingangstores. Wenn dieser Raum dazu dienen sollte, etwaige Besucher zu beeindrucken, so gelang dieses ohne weiteres. Schwere Tapisserien zierten die Wände, seidene Drapierungen verhüllten die beiden winzigen Fenster zur Gänze, und ein dicker Teppich schluckte das Geräusch von Fygens Schritten. Die Stühle, die man für die Wartenden bereitgestellt hatte, waren dagegen höchst unbequem, fand Fygen.
Es dauerte eine gute Weile, doch dann führte der Bedienstete Fygen die breite, geschwungene Treppe ins Obergeschoss hinauf. Er geleitete sie durch eine reich mit Ornamenten geschmückte Tür und hieß sie in einen weit größeren und deutlich geschmackvoller eingerichteten Saal eintreten.
Die Morgensonne flutete durch eine Reihe von Fenstern in den Raum und warf bunte Muster durch die Glasmalereien in den Oberlichtern auf die glänzend polierten Holzdielen des Fußbodens. Vom Neumarkt drang gedämpft der geschäftige Lärm der Händler und Bauern herauf, die beizeiten ihren Geschäften nachgingen.
Tief atmete Fygen ein, straffte sich und nahm die Schultern zurück. Dann durchquerte sie aufrecht den Raum und trat auf Hackenay zu, der am anderen Ende des Saales hinter einem mächtigen Tisch saß, vor sich einen aufgeschlagenen Folianten, der seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln schien.
Soweit Fygen das beurteilen konnte, war Hackenay ein gut aussehender Mann. Er mochte auf die sechzig zugehen, doch noch immer umrandete ein eisgrauer, üppiger Haarschopf seine markant geschnittenen Züge.
Erst als Fygen seinen Schreibtisch erreicht hatte, hob er seinen Blick aus dem Buch und bedachte sie mit einem unerwartet anziehenden Lächeln und einem forschenden, beinahe neugierigen Blick aus honigfarbenen Augen. Sein Gesicht war gebräunt, seine Haltung sehr aufrecht, und er wirkte drahtig, als hätte er sein Leben mehr im Sattel als in einer Rechenstube verbracht. Ein wenig überrascht erwiderte Fygen sein Lächeln. Einen kaiserlichen Hof- und Rechenmeister hatte sie sich anders, viel trockener vorgestellt. Sie war sicher, dass er dereinst in jüngeren Jahren mit Leichtigkeit der Damenwelt den Kopf verdreht hatte.
Doch plötzlich änderte sich der Ausdruck auf Nikasius’ Gesicht. Das Lächeln verschwand, und er fuhr zusammen, als hätte er etwas Seltsames, ja, Erschreckendes erblickt. Langsam erhob er sich aus seinem Sessel, umrundete den Schreibtisch und trat auf sie zu, den Blick unverwandt auf ihr Gesicht geheftet.
Fygen musste sich beherrschen, um unter dem bernsteinfarbenen Blick nicht einen Schritt zurückzuweichen. Doch sosehr dieser sie auch befremdete, irgendetwas in Nikasius’ Augen war ihr wohlvertraut, als kenne sie es schon seit langem, obwohl sie sicher war, dem Rechenmeister nie zuvor begegnet zu sein. Eine Weile stand sie wie gebannt und erwiderte seinen Blick, bis Nikasius nach einer kleinen Ewigkeit mit trockener, spröder Stimme, als koste es ihn eine unmenschliche Anstrengung, fragte: »Was kann ich für Euch tun?«
Fygen bemühte sich, die unwirkliche Stimmung, die den Rechenmeister und sie wie Spinnweben eingehüllt hatte, zu zerreißen, und besann sich auf den Grund ihres Besuches: »Ich bin gekommen, um Euch zu bitten, die Rechnungen für die Seidenlieferung zu begleichen.«
Ihre Worte schienen nun auch Nikasius in
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