Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
schlug sie ihr Laken zurück und bedeutete Fygen, ihr nach draußen zu folgen. Barfuß und nur mit ihrem Nachthemd bekleidet, führte sie das Mädchen in eine abgelegene Ecke des Hofes, wo sie sich auf einem Stapel gehobelter Bretter niederließ. Fygen setzte sich neben sie und lehnte sich an den hölzernen Zaun, der den Hof zum Nachbargrundstück hin abgrenzte. Es war eine warme, stickige Nacht, und Dunst lag in der Luft. Abwartend zog Fygen die Beine unter dem weiten Hemd zu sich heran.
»Ich hasse das hier alles«, brach es aus Katryn heraus. »Die Spinnen, den Dreck, das magere Essen, diese elenden Strohbündel, auf denen wir schlafen müssen …«
Fygen staunte. Nie hätte sie dem stillen Mädchen einen solchen Temperamentsausbruch zugetraut. »Aber du bist doch schon länger hier, hast du dich noch nicht daran gewöhnt?«
Katryn schnaubte durch die Nase. »Ich bin seit über drei Jahren bei Mettel in der Lehre, aber bis vor ein paar Wochen habe ich zu Hause gewohnt und bin nur zum Arbeiten hergekommen. Das war so weit erträglich. Aber eine neue Bestimmung des Zunftvorstandes sagt, dass nun auch die Töchter von Eingesessenen und Bürgern, die vorher im eigenen Hause unterrichtet werden durften, bei ihren Lehrherrinnen wohnen müssen«, zitierte sie die Zunftordnung.
Teilnahmsvoll schnalzte Fygen mit der Zunge und versuchte einen Scherz, um Katryn aufzuheitern: »Sei froh, dass es Spinnen gibt, dann ist es wenigstens trocken.«
Tatsächlich musste Katryn bei der Vorstellung, dass ihre einfache Unterkunft auch noch feucht sein könnte, kläglich grinsen.
»Vermisst du deine Familie?«, wollte sie von Fygen wissen.
»Ich habe keine Familie mehr.«
»Oh, das tut mir leid. Ich habe nicht gewollt … und ich jammere über Spinnen. Ich muss dir wohl sehr anmaßend erscheinen«, entschuldigte sie sich.
»Nein, du hast ja recht. Es ist grässlich hier. Wenn nur das Essen besser wäre. Wie können Mettel und Grete dabei nur so fett werden?«
Wie um ihre Worte zu unterstreichen, war ein kurzes, hungriges Rumoren aus Fygens Magen zu hören.
Ohne eine Antwort zu geben, sprang Katryn auf und verschwand in der Dunkelheit, um kurz darauf mit einer dicken, kurzen, getrockneten Wurst in jeder Hand wieder zu erscheinen. »Na, was hältst du davon?«, fragte sie fröhlich. »Einen lieben Gruß von meiner Mutter.« Sie kicherte und ließ eine Wurst genau vor Fygens Nase baumeln.
Fygen schnupperte, sog genussvoll den salzigen Geruch nach Geräuchertem ein, und dann ließen sich die beiden Mädchen, sichtlich getröstet und mit vollem Mund kauend, die wundervollen Würste aus der Starkenbergschen Küche schmecken.
Es war bereits nach Mittag, als Fygen am nächsten Tag ihre lästigen Haushaltspflichten erledigt hatte und sich endlich zu den anderen Mädchen in der Werkstatt gesellen konnte. Sewis und Hylgen hatten den dritten Webstuhl fertig aufgeschert. Feine, seidene Kettfäden warteten darauf, zu wertvollem schimmerndem Tuch verwebt zu werden. Erwartungsvoll trat Fygen an den Webstuhl heran. Ob sie nun anfangen dürfte, richtig zu weben? Vorsichtig tippte sie auf die Fäden. Sie waren so straff gespannt, dass sie unter dem Druck des Fingers kaum nachgaben. Griffbereit neben dem Webstuhl aufgestapelt lagen längliche Spulen, fein säuberlich mit Schussgarn bewickelt. Alles war bereit, ein neues Webstück zu beginnen.
Katryn zog ein letztes Mal ihr Schiffchen durch das Fach und schlug die Kammlade zum Abschluss einige Male fest an: Ihr Seidentuch war fertig. Dann erhob sie sich von ihrem Webstuhl, streckte ihre langen Glieder und stützte die Arme in das Kreuz. »Hylgen, Fygen, kommt her«, rief sie die beiden Mädchen zu sich heran. »Seid so gut und macht an diesem Tuch hier den Abschluss.«
Fygen, die erwartet hatte, nun endlich selbst weben zu dürfen, blickte ihr enttäuscht nach, als Katryn sich an den dritten Webstuhl setzte. Das ältere Mädchen hatte Fygens Enttäuschung wahrgenommen und mit einem kleinen Schmunzeln quittiert. Doch ohne ein weiteres Wort nahm es ein Weberschiffchen zur Hand und setzte mit geübtem Griff eine Garnspule auf den Dorn.
Hylgen stupste Fygen an und bedeutete ihr, den Kettbaum ein winziges Stück zu drehen, so dass sie die Zapfen lösen konnte, die den Kettbaum fest zurück- und dadurch die Kettfäden unter Spannung hielten. Fygen ließ den Kettbaum los, und das fertige Gewebe sank herab. Nun schnitten sie die überstehenden Kettfäden ungefähr handbreit hinter dem letzten
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