Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
Vom Netzwerk:
Wandpfeiler abstützten. Dunkel zeichneten sie sich vor dem Blau des Himmels ab.
    Rudolf war Fygens bewundernden Blicken gefolgt. »Der Chor ist der einzige Teil, der seit langem fertiggestellt ist«, erklärte er. »Sie bauen immer noch daran, doch der Dom wird niemals fertig werden«, sagte er ernsthaft.
    »Wieso das?«
    »Schuld daran ist der erste Dombaumeister. Meister Gerhard hieß er. Er ist mit dem Teufel eine Wette eingegangen, dass der Steinmetz es eher schaffe, den Dom fertigzustellen, als der Teufel, eine Wasserleitung von Trier nach Köln zu bauen. Als Pfand dafür gab er seine Seele. Doch eines Tages, Meister Gerhard beschaute sich auf einem Gerüst hoch oben die Baufortschritte an seinem Dom, sah er, wie aus einem Rohr auf dem Domhof ein Bach entsprang. Enten schwammen schnatternd darauf herum, und der Teufel, der die Gestalt eines schwarzen Hundes angenommen hatte, erschien auf dem Gerüst. Meister Gerhard wusste, dass er seine Wette verloren hatte, und stürzte sich in die Tiefe, doch der Teufel sprang hinterher, um sich seine Seele zu holen. Die Baupläne verbrannten, und seither ist keiner so recht in der Lage, den Dom fertigzubauen.«
    Erstaunt zog Fygen die schmalen Augenbrauen hoch, und Rudolf fügte hinzu: »Na ja. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Leute nicht mehr so viel Geld für den Dombau spenden.« Mit einem verschmitzten Lächeln, das sein schmales Gesicht fast einnehmend wirken ließ, zwinkerte er Fygen zu.
    Sie empfand seine Gegenwart nicht mehr als lästig, im Gegenteil. Es machte doch viel mehr Spaß, in Begleitung die Stadt zu erobern. »Was schauen wir jetzt an?«, fragte sie unternehmungslustig.
    »Den Ratsturm?«, schlug er vor.
    »Einverstanden.«
    Gemütlich schlenderten sie zurück in südliche Richtung und erreichten bald den Alten Markt, einen großen, nahezu dreieckigen Platz, der von unzähligen schmalen, mehrstöckigen Häusern gesäumt wurde. Wochentags herrschte hier ein reges Markttreiben, doch davon war heute nichts zu sehen, stellte Fygen fest. Der heilige Sonntag wurde streng geachtet, und so lag der Platz beinahe verwaist da. Zielsicher steuerte Rudolf auf die Mitte des Platzes zu. Hier stand neben dem Wachthäuschen für den Marktaufseher der leere Kacks. So wurde der mannshohe, hölzerne Käfig genannt, in den der Marktaufseher all jene Kaufleute sperrte, die gegen die Marktordnung verstießen, und sie als Strafe für ihre Vergehen zur Schau stellte. Eine höchst geschäftsschädigende und daher wirksame Strafe für diejenigen Händler, die versuchten, auf unredliche Weise ihre Erträge ein wenig aufzubessern, sei es durch die Verwendung falscher Gewichte oder, trickreicher, indem sie verdorbene Ware unter die frische schummelten.
    Die Tür des Käfigs stand offen, und behende schlüpfte Rudolf hinein. »Ich wollte immer schon einmal wissen, wie man sich hier drinnen so fühlt«, witzelte er und streckte die Hände hilfesuchend durch die Gitterstäbe.
    »Komm da raus«, zischte Fygen. »Wenn dich jemand sieht, dann steckst du vielleicht schneller wirklich hier drin, als dir lieb ist.« Ihr verursachte allein der Anblick des Kacks eine Gänsehaut.
    »Na gut.« Rudolf ließ in gespielter Enttäuschung den Kopf hängen und verließ den Pranger. Theatralisch drehte er sich einmal um seine eigene Achse und deutete auf die Westseite des Platzes. »Da ist er. Unser Ratsturm – Symbol des Sieges der Kaufleute und Handwerker über die Patrizier.«
    Tatsächlich hatten sie von hier aus einen guten Blick auf die Rückseite des fünfgeschossigen Ratsturmes, dessen obere Etagen über die schmalen Fassaden der Fachwerkhäuser hinausragten. Seine Außenfassade war verziert mit unzähligen großen, steinernen Figuren. Auf halber Höhe des Turmes, genau unter einer runden Uhr, entdeckte Fygen einen abstoßenden, aus Holz geschnitzten Kopf mit Hut, Bart und hässlichen Glupschaugen. Es schlug zwölf Uhr mittags, und Fygen wunderte sich darüber, dass eine so unansehnliche Figur einen so prachtvollen Bau verunzierte, als der Kopf ihr plötzlich die Zunge herausstreckte. Fygen zwinkerte. Sie traute ihren Augen nicht so recht, und befremdet fragte sie: »Hast du das gesehen?«
    »Was gesehen?«, fragte Rudolf unschuldig zurück.
    »Da, der Kopf. Er hat mir die Zunge herausgestreckt.«
    »Was du nicht sagst. Da musst du dich irren. Das kann doch nicht sein. Ein Holzkopf kann sich doch nicht bewegen, geschweige denn die Zunge herausstrecken.«
    »Doch, doch. Ganz sicher hat

Weitere Kostenlose Bücher