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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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Richtung«, erklärte sie. »Das mindert den Drall des einzelnen Fadens, gleicht Unebenheiten aus und macht den Faden stabiler.« Und wieder setzte Fygen die Spindel in Bewegung, diesmal in die andere Richtung. Ein paar Mal verhedderte sie sich, doch insgesamt stellte sie ein passabel gezwirntes Garn her.
    »Es ist mühsam, nicht wahr? Wenn ich mir vorstelle, wie viel Garn wir in der Werkstatt verweben – und außer uns gibt es noch viele andere Seidmacher, die ebenfalls Garn brauchen. Und das alles muss gesponnen werden.« Fygen staunte.
    »In Lucca hatten wir eine Seidenzwirnmühle dafür«, erinnerte Marie sich. »Das war ein Gerät mit einem großen Rad daran, das die Fäden drehte. Es wurde mit der einen Hand angeschoben, während die andere Hand die Seide führte, genau wie du es eben auch getan hast. Das ging natürlich viel schneller. Man sparte vielleicht ein Drittel der Zeit, doch, Gott sei Dank, hat der Rat der Stadt Köln Anfang des Jahrhunderts diese Teufelsdinger verboten.«
    »Aber was ist schlecht daran, schneller zu spinnen?«, wollte Fygen wissen.
    »Die Räder sind kostspielig. Nicht jeder kann sich eines leisten. Manch eine ärmere Spinnerin würde so in die Abhängigkeit ihrer wohlhabenderen Genossinnen geraten. Aber schlimmer ist, dass viele Seidspinnerinnen vollständig um ihr Brot gebracht würden, wenn diese Geräte ihre Arbeit machten. Es ist ohnehin schon schlimm, dass so viele Klöster und Konvente Seide spinnen, und das zu Preisen, die weit unter denen liegen, die in der Zunft vereinbart wurden. Der Rat schreitet zwar immer wieder dagegen ein, aber ganz kann er es wohl nicht verhindern.«
    Fygen reckte sich wohlig. Sie genoss die Stunden mit der alten Seidspinnerin. Marie war ein schier unerschöpflicher Quell an Wissen, fand Fygen, und plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Sag, kann ich nicht bei dir bleiben als Lehrmädchen?«, fragte sie.
    »Das wäre schön, und ich würde mich freuen, dich bei mir zu haben, doch ich verdiene nicht genug, um mir ein Lehrmädchen leisten zu können, wir beide würden hier gemeinsam verhungern. Und außerdem bin ich sicher, dass du das Zeug zu einer guten Seidmacherin hast. Und damit kannst du es viel weiter bringen im Leben. Glaub mir, Seidspinnerin zu sein ist nicht so sehr erstrebenswert. Wir sind allesamt nur Lohnwerker für die wohlhabenden Seidmacherinnen. Ihnen gehört die Rohseide, sie bestimmen die Löhne, die sie uns zahlen. Und sie zahlen schlecht. Manch eine bezahlt die Seidspinnerinnen sogar mit Seide oder englischem Tuch, für das die Arbeiterin weniger Geld erhält, als der Lohn ausmacht, der ihr zusteht. Trucksystem nennt man das, und der Rat der Stadt hat es untersagt, aber die Seidmacherinnen sind sehr mächtig. Sie scheren sich nicht immer darum, was der Rat ihnen vorschreibt. Halte die Jahre bei Mettel durch. Beiß einfach die Zähne zusammen, und wenn es gar zu arg ist, dann wandere in Gedanken zu einem Ort, an dem du glücklich bist.«
    »Hast du auch so einen Ort?«, wollte Fygen wissen.
    »Ja.« Die alte Frau lächelte. »Weit fort, auf der anderen Seite der Berge. In Venedig, da scheint fast immer die Sonne, und das Meer glänzt im Licht. Dort gibt es Paläste aus Marmor, und die Straßen sind aus Wasser.« Auf ihr Gesicht hatte sich ein friedlicher Glanz gelegt, die kleinen Vogelaugen blickten durch Fygen hindurch in eine andere Welt.
    Leise stand Fygen auf und überließ Marie ihren glücklichen Träumen. Es war noch ein wenig zu früh, um Katryn zu treffen, und so schlang sie ihr Schultertuch fest um sich und streifte durch die Gassen hinter dem Rathaus, um sich die Zeit zu vertreiben. Die dichte Wolkendecke ließ immer weniger Licht hindurch, so dass es in den schmalen Gassen schon ein wenig dämmerte. Zudem hatte es angefangen zu regnen. Fygen trat in einen Tordurchgang, um vor dem Regen Zuflucht zu finden, als ein dünnes Wimmern an ihr Ohr drang. Das Wimmern wurde stärker, um schließlich zu einem markerschütternden Schrei zu werden, der Fygen durch und durch ging.
    Fygens erster Gedanke war Flucht. Nur fort von diesen grausigen Schreien. Doch etwas in der jungen Stimme dauerte sie unendlich, und sie kehrte um und ging vorsichtig tiefer in den dunklen Durchgang hinein. Da in einer Ecke, an die Mauer gekauert, lag ein Bündel aus Kleidern, das sich bewegte. Der Schrei war wieder zu einem Wimmern geworden, und das Bündel schien in sich selbst verschwinden zu wollen. Fygen ging neben dem unglücklichen Wesen in die Hocke

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