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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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und fasste es vorsichtig an der Schulter. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie sanft und versuchte, den Mensch zu sich herumzudrehen.
    »Mir ist nicht zu helfen«, schluchzte die junge Stimme voller gequälter Hoffnungslosigkeit, und eine eiskalte Hand griff nach Fygens Herz. Sie kannte die Stimme. Es war Sewis, die hier so elendig lag.
    »Scht«, sagte Fygen, »ganz ruhig«, und sie legte Sewis den Arm um die Schultern. »Jetzt wird alles gut«, tröstete sie. »Ich bin es, Fygen. Kannst du aufstehen?« Behutsam versuchte sie, das Mädchen auf die Füße zu ziehen, doch eine neue Woge des Schmerzes schüttelte den mageren Körper, und Sewis krümmte sich zusammen.
    Als die Qual ein wenig nachließ, schaffte Fygen es, Sewis ein Stück weiter in Richtung Gasse zu bewegen, und graues Dämmerlicht fiel auf Sewis’ fahles Gesicht, ihre unglaublich großen, hungrigen Augen. Ihr kleiner Körper war schrecklich abgemagert, und der dicke Bauch wölbte sich grotesk vor.
    »Oh mein Gott, hilf uns«, entfuhr es Fygen. Dann nahm sie sich zusammen und ließ Sewis zurück auf den Boden sinken. Behutsam bettete sie den Kopf des Mädchens an die Wand des Durchgangs. »Ich gehe und hole Hilfe. Bleib hier und warte auf mich, es wird nicht lange dauern.« Dann raffte sie ihre Röcke, und so schnell es Wind und Regen zuließen, eilte sie los. Die Gasse hinab, in die nächste hinein, am Rathaus vorbei, durch die Judengasse und dann quer über den Alten Markt. Der Regen schlug ihr ins Gesicht, Schmutz und Dreck aus den Pfützen spritzten auf und beschmutzten ihr Kleid, doch sie achtete nicht darauf. Endlich hatte sie das schmale Gässchen durchquert und erreichte den Hintereingang des Goldenen Krützchens. Heftig hämmerte sie mit der Hand gegen die Tür und riss diese auf, ohne auf Antwort zu warten.
    Lena blickte missbilligend von ihren Töpfen auf, doch als sie Fygen erkannte und sah, wie aufgelöst das Mädchen war, lief sie los, um Rudolf aus der Schankstube zu holen.
    Überrascht trat der Junge in die Küche. »Was ist passiert?«, wollte er wissen.
    »Erzähle ich dir unterwegs. Du musst jetzt ganz schnell mitkommen.«
    »Aber ich habe …«
    »Es ist wichtig, glaub mir«, bat Fygen eindringlich.
    »Also gut«, seufzte Rudolf ergeben, griff nach seiner Juppe und folgte Fygen in den Regen hinaus.
    »Aber es muss hier sein. Ein breiter Tordurchgang. Eben war er noch da«, sagte Fygen, den Tränen der Verzweiflung nahe. Hilflos irrte sie mit Rudolf durch die schmalen Gassen, denn in ihrer Eile, Hilfe zu holen, hatte sie nicht darauf geachtet, sich genau einzuprägen, in welcher Gasse sie Sewis zurückgelassen hatte. Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen, und eine Gasse sah wie die andere aus.
    Da, dort musste es sein. An diesen steinernen Eberkopf über dem Eingang eines schmalen Hauses konnte sie sich erinnern. Gleich rechter Hand musste der Tordurchgang sein.
    Sewis hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass Fygen fortgegangen war. Abwesend starrte sie vor sich in die Luft und wiegte den Oberkörper vor und zurück, wie im unendlichen Rhythmus einer Melodie, die nur sie zu hören vermochte.
    »Sewis, ich bin wieder da. Ich habe Hilfe geholt. Jetzt wird alles gut, hörst du?«, sprach Fygen sie an, doch das Mädchen reagierte nicht.
    Gemeinsam zogen Rudolf und Fygen Sewis hoch und packten sie unter den Armen. Rudolf war nicht von kräftigster Statur, doch er war es gewöhnt zuzupacken, und so schafften sie es denn mit einiger Mühe, Sewis, mehr tragend als stützend, Schritt um Schritt vorwärtszubringen. Es ging langsam voran, und immer wieder mussten sie stehenbleiben, wenn Sewis sich vor Schmerzen zusammenkrümmte. Schweiß stand ihr auf der Stirn und mischte sich mit dem Regen, der immer noch unablässig fiel, und rann in kleinen Bächen an ihren Schläfen hinab.
    Nach einer Weile, die Fygen wie die Unendlichkeit vorkam, schafften sie Sewis endlich die zwei Stufen zum Bensbergschen Hinterhaus hinauf. Mit der Schulter stieß Rudolf die Küchentür auf, und unter Mühen schleppten sie Sewis hinein. Sanft ließen sie das Mädchen auf einen Hocker gleiten, doch just in diesem Moment erfasste Sewis eine neue Welle der Pein. Wieder fing sie an, markerschütternd zu schreien. Sie krümmte sich zusammen und glitt zu Boden.
    Die praktische Lena übernahm sofort das Regiment und schickte Rudolf fort, seine Mutter in der Schankstube abzulösen. Sewis schrie und schrie. Waren ihr

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